Über das große Stottern
Wenn in diesen Tagen von den Folgen der von der Regierung getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die Rede ist, dann wird gerne auf eine diffuse Gruppe von Menschen verwiesen, denen es irgendwie schlechter geht als einem selbst. So erscheinen allerorten Berichte, dass Kinder „sozial schwacher Familien in besonderer Weise von den Schulschließungen betroffen seien, sie seien nicht mit dem notwendigen „Bildungs-Habitus“ (Margrit Stamm) ausgestattet, die Eltern könnten oder wollten ihnen nicht beim Lernen zu Hause helfen und Migrant*innen wären schon auf Grund von Sprachschwierigkeiten von den Klassenlehrer*innen nur schwer erreichbar. Andere sprechen davon, dass Menschen in unzureichenden sozialen Verhältnissen in besonderer Weise von grassierender Arbeitslosigkeit betroffen seien; sie wären nur kaum mit den notwendigen digitalen Devices ausgestattet und hätten in der Regel keine Möglichkeit, sich in Home-Offices zu verschanzen. Auf engem Raum zusammengedrängt würde ihnen in Ermangelung eines Balkons oder eines Gartens in ihren kleinen Substandardwohnungen zuerst die Decke auf den Kopf fallen.
Hier artikuliert sich ganz offensichtlich eine „neue Solidarität von oben“. Sie geht von einer begünstigten Beobachter*innen-Rolle aus und richtet sich nicht nur an dezidierte Risikogruppen (alte Menschen, Kranke,…) sondern an all diejenigen, die es schon vor Corona schwerer gehabt haben, mit dem täglichen Leben fertig zu werden und die in diesen Tagen den Konsequenzen der Regierungsentscheidungen besonders brutal ausgesetzt sind.
Wer ist das eigentlich „sozial schwach“
Es gibt ihn also noch, den gesellschaftlich sensiblen Mittelstand, der zumindest verbal noch nicht völlig durchtränkt ist von der Logik der Konkurrenzgesellschaft, in der jeder/jede – ohne Rücksicht auf Verluste – ausschließlich mit der Verfolgung seiner/ihrer individuellen Erfolgsgeschichte beschäftigt ist. Aber selbst all diese Gutmeinenden stehen nach dreißig Jahren neoliberaler Gehirnwäsche vor dem Dilemma, über keine auch nur halbwegs aussagekräftige Begriffsbestimmung zu verfügen. Dieses beginnt bei der Verwendung des Begriffs „sozial schwach“, der nur all zu leicht in die Irre führt. Genauso gut könnte man sagen, dass es nur ihre soziale Stärke ist, die ihnen ihr Überleben sichert. Als solche verfügen Menschen auf den „unteren Stufen der gesellschaftliche n Hierarchieleiter“ in der Regel über ein besonderes soziales Sensorium, das ihnen ein letztes Gefühl der Zugehörigkeit sichert. Es sind ihre informellen Netzwerke, Gruppenbildungen aber auch das Wissen um Fördermaßnahmen, die sie über den Tag bringen. Martin Schenk von der Armutskonferenz spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Beleidigung, der in der Verwendung des Begriffs „sozial schwach“ mitschwingen würde. Zugleich gibt es gute Gründe, gerade diejenigen, die sich mit aller Skrupellosigkeit an die Spitze der Gesellschaft gekämpft haben, als besonders „sozial schwach“ zu bezeichnen. Immerhin haben sie auf ihrem Weg zum individuellen Erfolg jegliches soziales Engagement als unnötige Behinderung hinter sich gelassen, um jetzt am Beispiel ihrer individuellen Erfolgsgeschichte den Zurückgeblieben die hemmenden Wirkungen des Sozialstaates zu erklären.
In dieser neuen Rhetorik der Solidarität versucht ganz offensichtlich ein Mittelstand noch einmal zu sich zu kommen, in dem er sich eines Wertekanons versichert, der sich nicht ausschließlich an den gerade geltenden Marktwerten erschöpft. Diesbezügliche Ermutigungen in Zeiten der Krise reichen vom Zukunftsforscher Matthias Horx, der gleich davon spricht, dass wir drauf und dran wären, in ein neues Zeitalter der Solidarität einzutreten bis hin zu linken Gesellschaftskritiker*innen wie Monika Mokre, die wesentlich vorsichtiger zumindest neue Chancen der Solidarisierung ortet….
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Bild: flickr: “Pyramid of Capitalist System“/ Will. CC BY-NC-SA.
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