Über das Leben, über die Kunst und über ihre ökonomische Überformung
„Every performance you give is a kind of pregnancy and you have to dream, you have to wait, until the miracle is happening. If you are not like this in music, you lose the central idea of music. Music is not a profession, is not a reproduction, it is a mission. Go play your words, go play your sounds to the people who are going to die. And you will see what is the real audience, and the real appreciation.“ (Teodor Currenztis)
Dieses Zitat habe ich in einem Promotion-Video des jungen griechisch-stämmigen Dirigenten Teodor Currenztis gefunden, der in den letzten Jahren in freiwilliger Emigration im russischen Perm ein junges Ensemble MusicAeterna aufgebaut hat. Mit diesem gastierte er just zur Eröffnung der EU-Konferenz „Financing Creativity“ in Athen. Und gab mit einer atemberaubenden Performance von „Dixit Dominus“ von Georg Friedrich Händel und „Dido und Aeneas“ von Henry Purcell eine Ahnung davon, dass es beim Musikmachen ums Ganze geht, eben um Leben und Tod.
Ich weiß nicht, ob den Organisatoren der Widerspruch bewusst war, wenn sie diese Form der künstlerischen Unbedingtheit einer europäischen Veranstaltung voranstellte, die herauszufinden suchte, was sich bei und mit Kultur auszahlt und was sich rechnet.
Nein, nein, nochmals nein Frau Kommissarin: Jean Monnet hat niemals gesagt „Si c’était à refaire, je commencerais par la culture“ – Wenn ja, wäre er ein gesellschaftspolitischer Idiot gewesen und zählte heute nicht zu den Gründungsvätern der europäischen Gemeinschaft
Der Anfang dieses Treffens zur aktuellen Situation der Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa gestaltete sich dann doch anders als von einem repräsentativen Event erwartet. Als der griechische Kulturminister Panos Panagiotopoulos sich vor den rund 400 TeilnehmerInnen anschickte, die in solchen Settings mittlerweile gebräuchlichen Stehsätze abzuliefern, wurde er von einem Teil der griechischen BesucherInnen lauthals belacht und mit heftigem Klatschen zu provozieren versucht. Und er ging prompt in die Falle und ließ seiner Rage freien Lauf. Und wir konnten erleben, wie er die Störenfriede mit einer Suada an Beschimpfungen zum Schweigen bringen wollte. Als ihm dies nicht gelang, verließ er mit seiner Entourage vorzeitig den Saal. Worauf die griechische Kultur- und Bildungskommissarin Androulla Vassiliou gar nicht mehr versuchte, ihre Rede zu halten (sie holte diese am nächsten Morgen nach und – Sie werden es nicht für möglich halten – strapazierte einmal mehr Jean Monnet, der, wie wir mittlerweile alle wissen, als kluger Politiker nie gesagt hat, dass er bei einem nochmaligen Versuch, die europäische Gemeinschaft zu schaffen, mit der Kultur beginnen würde).
Die folgenden zwei Tage waren gefüllt mit einer Vielzahl an Präsentationen, die in ihrer Geballtheit deutlich machten, wie weit vorgedrungen und ausdifferenziert die Vorstellungen einer marktwirtschaftliche Verhandlung von Kunst und Kultur mittlerweile gediehen sind. Keine Rede mehr vom staatlichen Auftrag, als eine wertorientierte Marktkorrektur zu fungieren, dafür umso mehr von rückzahlbaren Darlehen, der Bereitstellung von Venture Capital, der Unterstützung durch Business Angels oder von vielfältigen Crowdfunding-Modellen. Geht es nach den TeilnehmerInnen, dann werden diese Maßnahmen künftig die zentrale Grundlage für die Kunst- und Kulturproduktion bilden und damit den ökonomischen Erfolg zum vorrangigen Maßstab für den handlungsleitenden Diskurs erklären.
Sind die Tage einer nicht vorrangig wirtschaftlich gerichteten Kunst- und Kulturförderung gezählt?
Dem versuchten die anwesenden Mitglieder der EU-Kommission erst gar nicht eine politische Agenda entgegenzuhalten. Stattdessen überboten sie sich darin, den Nachweis zu erbringen, welch eminenten Beitrag das neue Kulturprogramm „A Creative Europe“ für die Umwandlung des Kunst- und Kulturbereich in einen Wirtschaftssektor zu leisten vermag. Ihre Ausführungen lassen Gerüchte verständlich werden, die darauf hinauslaufen, die EU-Förderpraxis, die sich nicht auf unmittelbaren marktwirtschaftlichen Erfolg abzielende Kunst- und Kulturprojekte bezieht, über kurz oder lang überhaupt aufzugeben.
Bei der Vorbereitung meines Beitrags zu „Audience Development“ wurde mir nochmals in aller Deutlichkeit bewusst, dass die Behauptung einer genuin staatlichen Zuständigkeit für Kunst und Kultur als nicht beliebig wirtschaftlich verwertbare „meritorische“ Güter und Dienstleistungen erst seit relativ kurzer Zeit existiert und eng an das Nachkriegsmodell des Wohlfahrtsstaates gebunden ist. Dieses Nahverhältnis wird erst mit der sukzessiven Rücknahme erkämpfter wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften in vollem Ausmaß deutlich. Zwar zeigen sich vor allem im politischen Willen, kulturelle Bildungs- und Vermittlungsprogramme für sozial benachteiligte Gruppen auch „gegen die Krise“ aufrecht zu erhalten, Versuche einer Entkopplung. Trotzdem ist – siehe die Protestierenden am Beginn der Veranstaltung – unübersehbar, wie sehr öffentliche Kunst- und Kulturförderung den öffentlichen Spardiktaten zum Opfer fällt bzw. dass „Audience Development“ zu einem Mittel zur Aufrechterhaltung einer Konsumentenschaft in einer kulturellen Marktwirtschaft mutiert.
Die positive Konsequenz, die sich aus der Vermarktwirtschaftlichung von Kunst und Kultur ergibt, liegt vor allem in einer Neuverteilung der Aufmerksamkeit zwischen Produktion und Rezeption/Konsumption. Damit wird ein emanzipatorische Potential einer kapitalistischen Herangehensweise sichtbar, das kulturpolitisches Handeln immer weniger auf den nachfragezentrierten Aspekt von Kunst- und Kulturproduktion beschränken lässt sondern die Aufmerksamkeit auf diejenigen lenkt, für die Kunst produziert wird. Mit dem wachsenden Druck ökonomischen Denkens gerät eine Kulturpolitik, die sich zuletzt weitgehend von den Interessen selbstreferentieller Kulturbetriebe abhängig gemacht hat, in Zugzwang, künftig auch die Nachfrageseite stärker zu berücksichtigen.
Als Kulturverwaltungen begannen, sich für Publika zu interessieren
Eine der Konsequenzen liegt in faszinierenden Neuausrichtungen einzelner öffentlicher Kulturverwaltungen, wie wir sie am Beispiel Barcelonas erfahren haben. Die dortige Stadtverwaltung leistet sich mittlerweile ein eigenes „Audience Department“, das wochenaktuell BesucherInnendaten sammelt und veröffentlicht, dazu vertiefende Studien zum NutzerInnen-Verhalten in Auftrag gibt, vor allem aber den Kultureinrichtungen Angebote macht, die daraus gewonnen Erkenntnisse in laufenden Veranstaltungen/Workshops/Arbeitsgruppengesprächen mit VertreterInnen öffentlich geförderter Kultureinrichtungen zu diskutieren und anwendbar zu machen.
Wie tief sich eine vorrangig ökonomistische Sichtweise bereits in den Kultursektor hineingefressen hat, zeigen u. a. die großen Erwartungen, die mit der Transformation des Kulturellen in ein Wirtschaftsgut verbunden werden. Wurden zuletzt zumindest noch terminologische Abgrenzungen zwischen einem – seiner eigenen Logik folgenden – Kulturbetrieb und den Cultural und Creative Industries versucht, so scheinen in einem neuen kulturwirtschaftlichen Denken und Handeln diese Barrieren weitgehend abgebaut. Immerhin geht es um nicht mehr und nicht weniger als den verzweifelten Versuch, mittels Kunst und Kultur den in Europa ins Stottern geratenen Wirtschaftsmotor noch einmal anzuwerfen, die globale Konkurrenz zu meistern, neue Beschäftigung zu kreieren und so den reformmüden europäischen Bevölkerungen (die es gelernt haben, Reform mit Verschlechterung zu identifizieren) noch einmal glaubwürdig ein Bild einer prosperierenden Zukunft zu entwerfen.
Über das Ende additiven Denkens: „Innovation bedarf der kreativen Zerstörung“
Entstehen soll auf diese Weise – über die aktuellen Krisenerscheinungen hinweg – eine neue Hoffnung auf erwartbare Segnungen einer europäischen Wissens- und Kulturgesellschaft, deren Propagandisten dafür plädieren, seine traditionellen industriellen Grundlagen zu überwinden. Übersehen wird dabei gerne, dass bestehende Industriestrukturen ungebrochen die eigentliche Grundlage wirtschaftlichen Erfolges darstellen; ein Befund, den man am Beispiel des deutschen Weges durch die Krise gut nachvollziehen kann. Eher schon könnte man zum Schluss kommen, dass es vorab einer „kreativen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) der bestehenden Strukturen bedarf, die den Wohlfahrtsstaat (und damit den Kulturbetrieb, wie wir ihn kennen) überhaupt erst ermöglicht haben. Das aber schafft für viele Betroffene gar nicht so angenehmen Voraussetzungen dafür, dass die Implementierung von CCI als ein Erfolg angesehen werden kann.
Vielleicht sollten angesichts des fundamentalen Transformationsprozesses, den die europäischen Gesellschaften und mit ihnen eine Vielzahl an Leidtragenden zur Zeit durchlaufen, die Erwartungen an den fragilen Sektor Creative und Cultural Industries nicht allzu hoch geschraubt werden. Bevor in Veranstaltungen wie „Financing Creativity“ allzu große Euphorie ausbricht, könnte es sich lohnen, noch einmal über eine genuin politische Haltung gegenüber Kunst und Kultur nachzudenken, die sich nicht auf ihre Funktion als Zurichtungsinstanz gegenüber aufoktroyierter marktwirtschaftlicher Erfordernisse erschöpft. Dabei könnte die Erkenntnis eine wesentliche Richtschnur sein, dass die jeweiligen Formen, in denen Kunst und Kultur verhandelt werden, wesentlich auf die Inhalte und damit die Bestimmung dessen zurückwirken, was Menschen, Gruppen oder ganze Gesellschaften unter Kunst und Kultur verstehen.
In diesem Sinn war für mich die Veranstaltung ein großes Alarmzeichen, dass es höchste Zeit ist, sich um einen politischen Begriff von Kunst und Kultur zu bemühen, dessen Bestimmung sich nicht auf private Einschätzungen, ob es sich auszahlt, sich damit zu beschäftigen, reduzieren lässt sondern im Sinn von Teodor Currenztis auf einen Anspruch von Unbedingtheit verweist. Dass diese Bemühungen zumindest auf universitären Boden noch nicht aufgegeben worden sind, davon zeigt u.a. ein Projekt der University of Warwick zu „Cultural Values“, dessen Ergebnisse es lohnen würde, noch einmal politisch produktiv zu machen.
Onassis bitte übernehmen Sie
Die Entscheidung der Organisatoren, die TeilnehmerInnen zum Abschluss der Veranstaltung mit den Aktivitäten zweier großer Stiftungen, die sich u.a. im Kulturbereich engagieren, bekannt zu machen, zeigt, dass das nicht einfach werden wird. Immerhin erhielten sie die Gelegenheit, die Stavros Niarchos Stiftung zu besuchen. Diese errichtet zurzeit – ganz so als gäbe es keinerlei Krisenerscheinungen in Griechenland – am Rande von Piräus ein riesiges, von Renzo Piano geplantes Kulturareal, das u.a. die Nationaloper als auch die Nationalbibliothek beherbergen wird. Als privater Träger weiß sich die Stiftung völlig unabhängig von öffentlichen kulturpolitischen Einflussnahmen und strebt diesbezügliche Kooperationen gar nicht mehr an. Die schiere Grandiosität des Vorhabens lässt vermuten, dass sie weit größere kulturelle Wirkungen zu entfalten vermag als es eine erlahmende öffentliche Hand auch nur zu behaupten könnte.
In eine ähnliche Richtung gingen die Erfahrungen beim Besuch des Kulturzentrums der Onassis-Stiftung. Dabei handelt es sich um einen brandneuen postmodernen Theaterkomplex mit mehreren Sälen mit insgesamt mehr als 1 000 Sitzplätzen. Gezeigt werden internationale Produktionen, die Kartenpreise sind für jedermann/jedefrau erschwinglich und liegen selbst für die besten Plätze unter 10 Euro. Und – fast schon selbstverständlich – darf in diesem Setting auch ein umfangreiches Bildungs- und Vermittlungsprogramm nicht fehlen.
Und einmal mehr kam bei mir der Verdacht auf, hier hätten ehemalige „Robber Barons“ (der Titel stammt ursprünglich aus den Tagen der US-amerikanischen Industrialisierung, in denen Wirtschaftsbosse wie Rockefeller, Vanderbilt oder Carnegie, die vor mehr als hundert Jahren auf dem Rücken einer ausgebeuteten Arbeiterschaft riesige Reichtümer aufgehäuft haben, um in der Folge zu versuchen, ihr Image in der Öffentlichkeit mit Hilfe sozialen und kulturellen Engagements zu verbessern) das kulturpolitische Geschäft weitgehend übernommen, um so jeden Anspruch auf Aufrechterhaltung eines diesbezüglichen öffentlichen Auftrages – schon auf Grund der mittlerweile völlig ungleichen Ressourcenverteilung – ad absurdum zu führen. By the way: Reeder sind bis heute in Griechenland – bei Androhung, sie würden ihren Standort anderweitig verlegen – von jeder Steuerleistung befreit.
Zuletzt gingen die Einschätzungen unter den TeilnehmerInnen, wer den Vortrag des Ministers gestört habe, wild durcheinander. Die einen sprachen von freien Kunstschaffenden, die keinen Zugang zu kulturpolitischen EntscheidungsträgerInnen mehr finden würden und mit ihrem Protest versucht hätten, den Kulturminister bei einer europäischen Veranstaltung zu blamieren. Die anderen vermuteten, dass es sich in erster Linie um ehemalige MitarbeiterInnen des Kulturministeriums gehandelt habe, die als künftige „Mobilitätsreserve“ jüngst ihrer Posten enthoben wurden.
Wer auch immer es war, den Protestierenden wird nur schwer zu vermitteln sein, dass eine zunehmende Ausrichtung von Kulturpolitik auf die Erfordernisse der Cultural und Creative Industries eine Errungenschaft darstellt. Ihnen bleibt, auf ein Wunder zu warten. Dafür aber hätte „Financing Creativity“ ein Kunstevent sein müssen und Teodor Currenztis sein Dirigent.
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