Über das Verstummen eines pädagogischen Vordenkers
In diesen Tagen erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Beitrag des Schweizer Erziehungswissenschafters Jürgen Oelkers mit dem Titel „Hoffnung und Sturz“ zum 90sten Geburtstag Hartmut von Hentigs. Der Bericht endet mit dem Wort „ratlos“.
Oelkers rühmt die Verdienste des wahrscheinlich einflussreichsten Reformpädagogen der deutschen Nachkriegszeit, der sich sowohl theoretisch als auch ganz praktisch für eine humane Schule stark gemacht hat. In ihr sollte es eine neue Kultur des Lehrens und des Lernens erlauben, den Schüler/die Schülerin ins Zentrum des pädagogischen Denkens und Handelns zu stellen – und nicht die Lehrpläne und Benotungssysteme der alten autoritären Staatsschule. Als wohl einflussreichster pädagogischer Hoffnungsträger forderte er, Schule als umfassender Erfahrungs- und Lebensraum „neu zu denken“ und mit dem so erworbenen theoretischen Rüstzeug in die Praxis umzusetzen.
Die Odenwaldschule in Hessen galt lange Zeit als beispielhafter Ort, an dem die Ideen von Hentigs ihre Realisierung fanden. Zuletzt wendete sich das Image der Schule als Knotenpunkt einer „protestantischen Mafia“, die hier ein elitäres Projekt einer liberalen Elite Deutschlands durchgezogen hat. Und es stellte sich heraus, dass in dieser Ordensburg offensichtlich andere Gesetze galten, die es dem langjährigen Direktor Gerold Becker erlaubten, sich den SchülerInnen auch sexuell zu bemächtigen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Obwohl diese praktischen Übergriffe das theoretische Lebenswerk von Hentigs in Frage stellten, verteidigte dieser bis zum bösen Ende das Tun seines Freundes, um nach dessen Schuldeingeständnis schließlich völlig zu verstummen.
Der Widerspruch, der sich dafür von Hentig zwischen Freundes- und Theorieverteidigung auftat, legt nochmals Überlegungen zu einem ganzheitlichen pädagogischen Verständnis, das alle Sinne einschließt, nahe. Immerhin geht es in der Schule, die von Hentig wollte, zwischen LehrerInnen und SchülerInnen nicht um ein anonymes Kunden- und Lieferantenverhältnis, sondern um eine umfassende Beziehung, damit neben der Wissens- und Fertigkeitsvermittlung auch um Sympathien, Gefühle oder Affekte, die jegliches menschliche Zusammentun auszeichnen. Sie begründen die Wirksamkeit eines unhintergehbaren pädagogischen Eros, der besser in einem prekären Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe gehalten werden will als tabuisiert.
SchülerInnen geben ihre Gefühle nicht an der Schulgarderobe ab
Mit dem Anspruch, auch Emotionen Raum in der Schule geben zu wollen, betreten wir unweigerlich das Terrain kultureller Bildung, die für sich beansprucht, Lernen „mit allen Sinnen“ zu ermöglichen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Kontroverse, die ich in meiner Zeit als Leiter des Österreichischen Kultur-Service mit dem konservativen Erziehungswissenschafter Alfred Schirlbauer hatte. Dieser hatte sich damals dezidiert gegen die Einbeziehung emotional aufgeladener kultureller Bildungsthemen und damit verbundenen ganzheitlichen Lernzugängen ausgesprochen. Sie würden in einem (weitgehend unreflektierten) hierarchischen Verhältnis zwischen den SchülerInnen und den beteiligten KünstlerInnen oder LehrerInnen die Gefahr illegitimer Überwältigung erhöhen.
In Schirlbauers Argumentation stellte es eine besondere Errungenschaft von Schulentwicklung nach 1945 dar, LehrerInnen auf eine möglichst sachliche (und darüber hinaus transparente) Vermittlung kognitiver Wissensbestände zu beschränken und sich dabei jeglicher emotionaler und so auch kulturbezogener Inhalte zu enthalten. Nur eine darauf beruhende Unterrichtsform verringere die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen, die die vormoderne Schule dominiert hätte. Im Vergleich dazu ortet Schirlbauer noch 2014 in einem Standard-Interview einen beträchtlichen Backlash in Form eines „Psychobooms“, der die Schulen seit den 1980er Jahren ergriffen hätte. Dieser hätte die Befindlichkeiten und Gefühle der Kinder ins Zentrum gerückt, ohne dass die LehrerInnen über die dafür notwendigen Qualifikationen verfügen würden, diese adäquat zu verhandeln. Es zeigten sich die verhängnisvollen Konsequenzen einer Rückkehr der Reformpädagogik, wenn die Sachlichkeit des Unterrichts wenige Chancen gegenüber dem lebendigen Gefühl habe. Dass nunmehr das ganze Kind „mit seinen Bedürfnissen, seiner unendlichen Kreativität und seinen spontanen Lernbedürfnissen“ und nicht mehr der Gegenstand des Unterrichts im Mittelpunkt stehe, lasse das Berufsbild des Lehrers zunehmend obsolet erscheinen.
Nun hat sich selbst von Hentig in seinem Band „Kreativität – Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff“ vor überzogenen Erwartungen nach kreativer Selbstentwicklung junger Menschen gewarnt. Was Schirlbauer trotzdem entgegenzuhalten ist, das ist die schiere Tatsache, dass SchülerInnen mit all ihren Sinnen die Schule betreten und diese nicht an der Garderobe abgeben. Nur wenn diese einbezogen werden, macht Lernen Sinn und gelingen sinnvolle und sinnstiftende Lernprozesse. Dazu kommt, dass junge Menschen über spezielle Begabungen nicht nur im Bereich des kognitiven Wissenserwerbs, sondern darüber im Bereich sozialer und emotionaler Intelligenz verfügen, die nur um den Preis passiver, zunehmend auch aktiver Resistenz außen vor gelassen werden können.
Aber ja, es stimmt, die Einbeziehung des ganzen Menschen nötigt den beteiligten LehrerInnen eine ganz besondere Verantwortung ab. Sie können nicht darum herum, dass sie in einem auch emotional aufgeladenen Umfeld agieren und nicht nur sachliche Reaktionen hervorrufen. Sich dabei permanent zu beobachten, den jeweiligen Stand der Beziehungen zu den SchülerInnen zu reflektieren und allenfalls auch zu korrigieren, scheint das einzige Mittel, den pädagogischen Eros nicht nur um Zaum zu halten, sondern für die Entwicklung der SchülerInnen zu nutzen. Das ist Gerold Becker nicht gelungen – und Hartmut von Hentig hat dazu geschwiegen.
Das Tabu der Flüchtlingsströme in Polen
Vor ein paar Tagen hat in Lodz eine von der nationalen UNESCO Kommission ausgerichtete Fachkonferenz zu Arts Education stattgefunden, an der ich teilnehmen durfte. Angesprochen habe ich dort die Konsequenzen der aktuellen Flüchtlingsströme auf die nationalen Schulsysteme, ein anderes höchst emotionales Thema, das in der polnischen Schule bislang weitgehend tabuisiert worden ist. Viele teilnehmenden LehrerInnen zeigten sich froh, darüber erstmals ausführlicher sprechen zu können. Viele von ihnen verfügen bislang nicht über die entsprechenden interkulturellen Methodenkenntnisse und fühlen sich dementsprechend verunsichert. Erkenntnisse etwa aus Österreich, dass die Nutzung der unterschiedlichen ästhetischen Ausdrucksformen wie Tanzen, Musizieren, Theaterspielen oder visuelles Gestalten helfen können, sprachliche und darüber hinaus kulturelle Barrieren abzubauen, waren ihnen neu und willkommen.
Darauf aufbauend verlagerte sich die Diskussion bald ins Grundsätzliche, wenn die Frage aufkam, wie die Schule von morgen bestmöglich organisiert werden kann. Während die Vertreterin des französischen Bildungsministeriums noch einmal auf dem Anspruch des Staates bestand, das Unterrichtsgeschehen in allen Details zentral vorgeben zu sollen, ertappte ich mich dabei, keine klare Antwort darauf zu haben. Immerhin wurde mir klar, dass es ein verbindliches Modell nicht mehr gibt, sondern sich dieses erst in der Auseinandersetzung der lokalen AkteurInnen mit ihren jeweiligen Ansprüchen, Erwartungen, Umfeldbedingungen oder Ressourcen ergibt. Entsprechend plädierte ich für eine Erweiterung lokaler Entscheidungsspielräume in und rund um die Schule. Immerhin verfügen wir mittlerweile über eine lange Tradition autonom und bedürfnisorientiert ausgehandelter Lernformen (inklusive – siehe oben – allfälliger Gefährdungen).
Und was ist, wenn von Hentig ebenso wie Schirlbauer in ihren Unbedingheitsansprüchen unrecht haben?
In der Ausgestaltung dieser neuen Lernformen sind möglicher Weise die beiden Enden eines pädagogischen Spannungsbogens – hier von Hentig und dem Kind im Mittelpunkt, dort Schirlbauer und sein Primat des Gegenstandes – in ihrer Ausschließlichkeit vielleicht nicht die besten Lehrmeister. Immerhin kann sich ein Kind im Zentrum der Welt und dem damit verbundenen Anspruch, seine Lernleistung aus sich selbst heraus zu vollziehen, schon einmal sehr einsam vorkommen und erklärende, zeigende und erzählende Begleitung durch eine/n geschulten Pädagogen/in sehr willkommen heißen. Und umgekehrt kann die Außerkraftsetzung einer alles wissenden und alles vorgebenden Schulbürokratie bei den SchülerInnen Potentiale freisetzen, die im traditionellen Schulalltag als solche überhaupt nicht erkannt worden werden. (In der Zuspitzung des Gegensatzes Gegenstand versus Schüler/in sehe ich durchaus Parallelen zum Kulturbetrieb, wo eine neue Generation von KulturvermittlerInnen gefordert ist zu entscheiden, ob sie ihre Programme mehr am Artefakt oder an den Bedürfnissen der BesucherInnen ausrichten wollen).
Die Qualität des Schulstandortes ergibt sich aus der Bereitschaft der aktiven Aneignung aller Beteiligten
Um diesen Widerspruch produktiv zu machen, soll hier ein erster Versuch einer Synthese unternommen werden. Ein solcher geht davon aus, dass Schule in einem demokratischen Gemeinwesen einen allen gehörenden Lernort darstellt. Seine Funktion beschränkt sich nicht mehr auf einseitige Dekretierung von Aufgaben, die von den SchülerInnen erfüllt und daraufhin bewertet werden. Stattdessen läge seine besondere Qualität in der Fähigkeit der aktiven Aneignung dieses öffentlichen Ortes durch alle aktiv Beteiligten (SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern, Unterstützungspersonal, Kooperationspartner,…). Es ist die Bereitschaft/Verpflichtung zur Mitwirkung und Mitgestaltung, die die Grundlage für zu treffende wechselseitig verbindliche Vereinbarungen bildet, was wie mit wem unter welchen Umständen gelernt wird – und was nicht. Dazu kann der Staat steuernde Vorgaben machen, die Umsetzung fällt in die Kompetenz der Vertragspartner vor Ort – sie müssen etwas zu entscheiden haben.
Mir ist in diesem Zusammenhang ein Beitrag von Marina Weisband, der ehemaligen Geschäftsführerin der Piratenpartei in Deutschland in die Hände gefallen. Im Spektrum der Presse vom 26. September unter dem Titel „Die Klugheit der vielen“ verhandelt sie neue Formen der demokratischen Mitwirkung im Rahmen von „Liquid Democracy“. Sie spricht dabei von einem Vorhaben im Rahmen von „politik-digital e.V.“ von einem geplanten Vorhaben „aula – Schule gemeinsam gestalten“, das es SchülerInnen ermöglichen soll, mit den Mitteln neuer Mitbestimmungsformen (digital ebenso wie offline) eigene Ideen rund um den schulischen Bereich einzubringen, zu diskutieren, abzustimmen und zu verwirklichen. Bereits 11-Jährige können in diesem Versuch lernen, andere von ihren Ideen zu überzeigen und sich mit demokratischen Prozessen und ihren Folgen zu arrangieren. Die Essenz dieses Vorschlags liegt – jedenfalls für mich – darin, nicht ausschließlich auf die eigene Durchsetzungskraft zu vertrauen, sondern zumindest ebenso auf die Kompetenzen anderer, auf die, von Fall zu Fall verschieden, die eigenen Stimmrechte auch auf andere Akteursgruppen übertragen werden können. Die Sachkenntnis der LehrerInnen kann also in diesem demokratischen Spiel durchaus zu ihrem Recht kommen.
Schule ist und bleibt ein politischer Ort
An diesem Beispiel wird klar, dass Schule als öffentlicher Ort ungebrochen ein Politikum darstellt, das über den Stellenwert der Einflussnahme als Beteiligten entscheidet. Dominant gewordene BildungsmanagerInnen haben uns in den letzten Jahren weißmachen wollen, mit der Entwicklung hinlänglich vergleichbarer Standards ließe sich Schule zu einem politisch neutralen Terrain uminterpretieren. Was aber bleibt sind die (ungleichen) Machtverhältnisse, die ungebrochen das Schulgeschehen bestimmen und den Beteiligten einen bestimmten Platz in den hierarchischen Verhältnissen zuweisen. Das Ergebnis kann – in reformpädagogisch ebenso wie traditionell geführten Schulen – verheerend sein.
Die Ursachen liegen aber nicht darin, dass die SchülerInnen mehr oder weniger emotionalen Freiraum vorfinden oder sich mehr oder weniger mit Kunst und Kultur beschäftigen; die Ursachen liegen vor allem in der Angst der Beherrschten vor der Übermacht der Herrschenden. Im Vorschlag von Marina Weis sehe ich immerhin die Chance, dass die SchülerInnen gegen die sexuellen Übergriffe ihres Direktors aufbegehren und sich dagegen verwehren. Und vielleicht hätten sie sogar Hartmut von Hentig zu seiner eigenen Ehrenrettung zum Reden gebracht, dass eine solche Praxis seiner pädagogischen Theorie nicht entspricht. Und wir wären etwas weniger ratlos.
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