Über Interessen, Haltungen und Anpassungsleistungen
Vor wenigen Tagen hat die langjährige Bezirksvorsteherin des 1. Wiener Gemeindebezirkes Ursula Stenzel bekannt gegeben, ihrer angestammten politischen Heimat ÖVP künftig den Rücken kehren und sich der FPÖ zuwenden zu wollen. Sie war zuvor von der konservativen Partei nicht mehr an einem wählbaren Listenplatz gereiht worden. Diese Kränkung aber wusste sie in der Begründung mit einer politischen Argumentation zu übertünchen, wonach es bei der kommenden Wiener Wahl zuallererst darum ginge, der amtierenden Rot-Grün-Regierung ein Ende zu setzen. Diese Absicht könne sie mit einer durch sie symbolisierten Öffnung der Freiheitlichen für das bürgerliche Lager wesentlich aussichtsreicher verwirklichen, als mit ihren alten politischen Freunden. (Sie nochmals umzustimmen vermochte offenbar auch der Umstand nicht, dass sich der Vorsitzende der Wiener ÖVP Helmut Kukacka zuletzt persönlich für den Fortbestand des Gymnasiums als letzter verbliebener Hort bürgerlicher Werteverständigung ausgesprochen hat.)
Adaptabilität als Qualitätsmerkmal künftiger Politik
Ursula Stenzel fügt sich mit der Entscheidung, ihr politisches Lager zu wechseln, ein in eine Reihe von Parteiwechsel, die mittlerweile zum fixen Bestandteil der politischen Kultur in Österreich gehören. Als erfolgreichster Umfärber erwies sich der parlamentarische Clubchef der ÖVP Reinhold Lopatka, dem es zuletzt in zwei Etappen gelang, das Team Stronach nachhaltig zu dezimieren. Zuerst waren die beiden Mandatare Marcus Franz und Georg Vetter vom Parlamentsklub des Teams Stronach zur ÖVP übergewechselt. Franz, so die Begründung, würde künftig die christlich-konservativen Werte der ÖVP stärken, während Vetter, der zuvor Homosexualität und Kinderlosigkeit als „amoralisch“ diagnostiziert hatte, als liberales Aushängeschild fungieren werde. Wenig später folgten den beiden die Team Stronach-Abgeordneten Kathrin Nachbaur und Rouven Ertlschweiger nach. Auch sie führten zur Begründung nicht das sinkende Interesse des Parteigründers Frank Stronach an Fragen der österreichischen Innenpolitik (und den damit verbundenen Attraktivitätsschund in der Öffentlichkeit) an, sondern die weitgehende Deckung ihrer politischen Vorstellungen mit dem aktuellen ÖVP-Programm.
Wechsel dieser Art fanden nicht nur rechts der politischen Mitte statt. Bereits im April dieses Jahres war im Wiener Stadtsenat der grüne Mandatar Senol Akkilic zur SPÖ gewechselt. Besondere Brisanz erhielt der Fall, weil mit Akkilic‘ Wechsel eine positive Abstimmung zu einer Wahlrechtsreform, die den Minderheitsfraktionen einen größeren Einfluss zugesichert hätte, verunmöglicht wurde. Zumindest ansatzweise gehört in diese Geschichte die ehemalige SPÖ-Kultursprecherin Sonja Ablinger, die, ebenfalls nach einer Demütigung durch ihre Partei, diese verlassen hat und jetzt die grüne Bürgermeisterkandidatin für Linz unterstützt.
Donald Trump als fragwürdiges Vorbild politischer Haltungslosigkeit?
Erfunden wurde diese Form des politischen Ringelspiels freilich nicht in Österreich; vielmehr vollzieht das Land möglicher Weise nur eine Entwicklung nach, die in anderen Ländern zur Normalität des politischen Geschehens gehört. Eine besonders interessante Karriere kann in diesem Zusammenhang der aktuelle (Noch-)Präsidentschaftskandidat in den USA Donald Trump nachweisen: Er trat 1999 erstmals aus der Republikanischen Partei aus, weil sie ihm damals zu rechtslastig geworden war. Stattdessen unterstützte er kurzzeitig Ros Perots Reform Party. 2001 schloss er sich den Demokraten an, weil die amerikanische Wirtschaft von demokratischen Interventionen besonders begünstigt würde. 2009 entschied sich Trump zu einer Rückkehr zu den Republikanern, ohne auf den Hinweis zu vergessen, er würde sich ungeachtet dieser Entscheidung mit wesentlichen Teilen des Programms seiner neuen Partei nicht identifizieren. Das ist der Grund, warum die New York Times kürzlich Donald Trump als den „ersten Postpolitik- Kandidaten für das Amt des US-Präsidenten“ bezeichnete.
Über Postpolitik und Personalisierung
Wächst also auch in Österreich die Anzahl von „PostpolitikerInnen“, denen die Existenz parteipolitischer Programme bestenfalls ein Vorwand für individuelles Karrierestreben ist? Unverkennbar ist in jedem Fall die sinkende Bedeutung, die programmatische Grundlegungen für das politische Geschäft haben. Das gilt umso mehr für Wahlauseinandersetzungen, in denen Köpfe allemal wichtiger geworden sind als Programme. Bestenfalls inkorporieren die führenden Figuren im Wahlkampf ein ihnen zugeschriebenes Programm, das ohne sie weitgehend an Bedeutung verliert. Das trifft in besonderem Maße auf Ursula Stenzel zu, die mit ihrer Entscheidung nicht nur sich, sondern bei der Gelegenheit einen ganzen Kosmos an distinguierten Werteverständnissen an die FPÖ abtritt (und so die FPÖ wesentlich mehr gewinnen lässt als eine altgediente Bezirkspolitikerin). Und dass für zumindest Teile des bürgerlichen Establishments „eine Welt zusammenbricht“, kann Strache herzlich egal sein.
Der Umstand, dass die politischen Programme für WählerInnen zunehmend bedeutungslos geworden sind, ist nicht neu und lässt sich an vielfältigen Rückmeldungen ablesen. Wie weit diese Form des Auseinanderdriftens zwischen Programm und Personal mittlerweile gediehen ist, zeigte mir unlängst ein Gespräch mit einer Spitzenbeamtin der Bundeskulturverwaltung, die, obwohl inhaltlich damit befasst, keine Aussage darüber treffen konnte, ob Kulturvermittlung einen Bestandteil des Übereinkommens der beiden Regierungsparteien darstelle oder nicht. Viel entscheidender sei, welche politischen Prioritäten die zuständigen PolitikerInnen vertreten würden, danach habe sich auch die Verwaltung zu halten.
Die Wirtschaft wird’s schon richten – oder was
Bleiben also einzelne Personen, die für sich in Anspruch nehmen, Politik zu machen: Besonders kennzeichnend war in diesem Zusammenhang der interimistische Auftritt des Wirtschaftsmagnaten Frank Stronach, der, geplagt von einem späten politischen Selbstverwirklichungstrieb, meinte, sich auf Grund seiner Vorerfahrungen als erfolgreicher Unternehmer als individuelle Gestaltungskraft in die politische Arena einbringen zu müssen. Die Gründung einer dafür notwendigen Partei war ihm sichtlich ein ebenso unnützes wie notwendiges demokratisches Übel; was zählen sollte, war ausschließlich sein persönlicher Zugang und die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel sollte die Durchsetzbarkeit seiner kruden Absichten zur Neugestaltung Österreichs gewährleisten. Kein Wunder, dass sich die Funktionäre seiner Partei als besonders anpassungsfähig erwiesen haben, als es darum ging, nach dem Rückzug ihrer autokratischen Führungsfigur (der sie ihre politische Existenz verdankt haben) in Ermangelung eigener politischer Substanz möglichst rasch in ein anderes Auffanglager zu wechseln.
Das alles sind Indizien für eine zunehmende Verflüssigung der politischen Landschaft, in der sich nicht nur eine wachsende Zahl von WechselwählerInnen sondern auch WechselmandatarInnen tummeln, um sich in Wahlzeiten zu temporären Konglomeraten in der Hoffnung auf wechselseitigen Nutzen finden. So weit so gut, wäre da nicht der Umstand, dass – bei allem Fortbestand des freien Mandates – das System der repräsentativen Demokratie nach wie vor in Kraft ist, auch wenn ihm von den herrschenden Individualisierungstendenzen zunehmend der Boden unter den Füßen entzogen wird.
Es gibt sie noch – z.B. die Unterschiede zwischen PolitikerInnen, UnternehmerInnen und KünstlerInnen
Um dies zu verdeutlichen sei an dieser Stelle nochmals an die kategorialen Unterschiede vor zwischen Politik (samt ihren Akteuren), Unternehmer- und Künstlertum erinnert, die sich alle drei auf einen gestalterischen Anspruch beziehen. Immerhin verweist die Idee von (demokratischer) Politik gerade nicht auf individuelle Selbstverwirklichung sondern auf das Vorhandensein gemeinsamer, von einzelnen Individuen abstrahierbarer und somit überhaupt erst gesellschaftlich relevanter Interessen. Erst diese ermöglichen eine nachvollziehbare Haltung und weisen die Richtung des politischen Engagements. Jede/r diesen Interessen verpflichtete/r Politiker/in weiß sich somit eingebettet in einen gemeinsamen Kontext, der für ihn bzw. sie handlungsleitend ist. Er oder sie ist es im Idealfall, der/die diesen Interessen Ausdruck bzw. ein Gesicht zu geben vermag; sein Erfolg ist der Erfolg der ihm/ihr vertrauenden InteressensträgerInnen, die nicht wie Hemden gewechselt werden wollen; seine/ihre Währung ist die politische Botschaft zur Generierung von Wählerzustimmung. Das Verfolgen eigener privater, nur ihn/sie selbst betreffender Interessen hat zumindest idealtypisch hintangestellt zu werden.
Genau umgekehrt verhält es sich aus der Sicht des Unternehmertums: Sein/ihr Interesse ist kategorial anders gelagert als das des/der Politikers/in: Es ist zuallererst privat und bezieht sich auf seinen/ihren höchstpersönlichen Erfolg, der sich dank des Engagements der Belegschaften im Wettbewerb am Markt mit anderen einstellt. Das heißt nicht, dass bei der Verfolgung der je eigenen Interessen der gesellschaftliche und damit öffentliche Kontext zu vernachlässigen wäre: Mit seinen/ihren Produkten (bzw. der Akzeptanz ihrer KundInnen) gestaltet er/sie Gesellschaft mit; umgekehrt sind die politischen RepräsentantInnen, die die Rahmenbedingungen vorgeben, in dem privates Unternehmertum entfaltet werden kann (und wo und wie nicht). Seine/ihre Währung ist das Geld. Als abstraktes Tauschmittel erlaubt es dem/der Unternehmer/in, frei über seine inhaltlichen Prioritäten zu entscheiden, heute Seife, morgen Verkehrsmittel, übermorgen Kommunikation. Es zählt, was sich rechnet.
Bleiben schließlich die KünstlerInnen. Auch sie vertreten spezifische Interessen; diese beschränken sich dabei aber in der Regel weder auf eine Stellvertreterfunktion kollektiver Interessen noch auf den Erfolg am Markt. Sie beziehen sich stattdessen auf einen individuellen Gestaltungswillen mit spezifisch künstlerischen Mitteln. Auch deren Ergebnisse können durchaus gesellschaftlich relevante Wirkungen zeitigen; ihr spezifisch ästhetischer Charakter weist jedoch immer wieder darüber hinaus. Darin liegt ihre eigentliche Qualität, deren Währung – zumindest ein Stück weit – er oder sie selber wählen kann.
Eine solche zumindest idealtypische Charakterisierung ist zumindest mir hilfreich bei der Einschätzung derer, die da zur Zeit für sich beanspruchen, Politik betreiben zu wollen und dabei meinen, von einer Rolle nahtlos in die andere schlüpfen zu können, ohne die gesellschaftliche Grundlegung ihrer jeweiligen Rolle nochmals kritisch zu hinterfragen. Scheinbar kontentfreie Adaptionsvirtuosen wie Stenzel, Nachbaur und Co oder arbiträre Selbstüberschätzer wie Stronach und Trump möchten vergessen machen, dass es nach wie vor beträchtliche Unterschiede in der interessenspezifischen Grundlegung der unterschiedlichen Systeme Wirtschaft und Politik gibt. Und es spricht einiges dafür, auf diese auch in Zukunft zu bestehen.
Die Zukunft der repräsentativen Demokratie steht auf dem Spiel – Die Flüchtlingsproblematik als Chance
Schwieriger zu beantworten ist da schon die Frage, wie angesichts der aktuellen Individualisierungshybris (samt möglichster Ausklammerung des haltungsbestimmenden Umfeldes) der politischen Akteure das System der repräsentativen Demokratie belebt bzw. den aktuellen demokratiepolitischen Erfordernissen entsprechend weiterentwickelt werden kann.
Auf eine wohl unbeabsichtigte Weise weist die aktuelle Flüchtlingsproblematik einen Weg: Irritierender Weise war es bislang vor allem die Freiheitliche Partei, die sich in besonderer Weise als Altpartei gerierte und mit ihren eindeutigen, wenn auch spalterischen und hetzerischen Parolen dem ungebrochenen Ideologiebedarf vor allem der benachteiligten und frustrierten WählerInnen-Schichten am besten nachgekommen ist. Im Unterschied dazu meinten sich die übrigen Parteien auf weitgehend ideologiefreie Sprechblasen beschränken zu sollen, um so, wenn schon nicht den programmatischen Anspruch (für den sich angeblich ohnehin niemand mehr interessiert), zumindest das eigene Überleben sicherzustellen.
Und dann zeigt sich – wie aus dem Nichts – ein überzeugendes zivilgesellschaftliches Engagement gegenüber den Flüchtlingen und verweist damit auf den Fortbestand eines ebenso breiten wie intakten Werteverständnisses, jedenfalls wenn es um die Einhaltung elementarer Menschenrechte geht. Und siehe da: VertreterInnen selbst staatstragender Parteien wie der SPÖ, die ein solches Werteverständnis im Kampf ums eigene Überleben bereits weit nach hinten verräumt haben, entdecken nochmals das eine oder andere ihrer ideologischen Versatzstücke; und plötzlich artikulieren sich selbst führende Funktionäre klar und deutlich zugunsten der Aufrechterhaltung einer Willkommenskultur, wie jedenfalls ich es nicht mehr für möglich gehalten hätte. Das muss auf Dauer nicht so bleiben, umso mehr als zu befürchten steht, dass nach einer ersten Schrecksekunde auch an entsprechenden konservativen Gegenpositionen gearbeitet wird, die wenig an Deutlichkeit über einen künftigen restriktiven Kurs zu wünschen übrig lassen.
Ein ideologisch grundierter Konflikt ist also wieder eröffnet und im Ausgang völlig unvorhersehbar. In jedem Fall mag er so manchem/er Politiker/in, die zuletzt gemeint haben, künftig freiflottierend als Fettauge auf der politischen Suppe schwimmen zu können, noch einmal eine stärkere politische Grundierung zu verpassen.
Bildnachweis: "fo.kuss 1" von Künstlerin Kathrin Siegl
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