„Und da gang i ans Peters Brünnele“
Wenn ich im letzten Blog über meine Erfahrungen als Schüler berichtet habe, möchte ich diesmal die Seiten wechseln und mich zurückerinnern an meine ersten Jahre als Lehrer. Da trifft es sich, dass die Schülerinnen, die ich als junger Mann Klassenvorstand begleiten durfte, gerade zur ihrem 40-jährigen Maturatreffen zusammengekommen sind.
Unmittelbar nach meiner Matura im Jahr 1970 schien uns als Abgänger einer Höheren Lehranstalt für chemische Industrie die ganze Welt offen zu stehen. Auf dem Arbeitsmarkt herrschten für Beschäftigungssuchende paradiesische Zustände: mehr als 250 Jobangebote für jeden von uns. Wir hatten also das Privileg, uns beim Eintritt in den Arbeitsmarkt Zeit zu lassen und in allem Möglichen auszuprobieren. Also begann ich bei Bayer Leverkusen im Labor, wechselte rasch in die Zuckerfabrik Hohenau, um dann laufend den Zuckergehalt zu analysieren. Danach war ich Assistent in meiner ehemaligen Schule. Dazwischen bereitete ich mich auf die Aufnahmeprüfung an der Musikuniversität vor und war Organist und Chorleiter in der Herz-Jesu-Sühne-Kirche. Und es gelang mir offenbar, alles irgendwie unter einen Hut zu bringen. Schon bald, nachdem ich als Student an der Musikakademie Fuß fassen konnte, las ich auf der Anschlagstafel der Hochschülerschaft einen Hinweis, dass an der Lehranstalt für wirtschaftliche Frauenberufe (!) in Wr. Neustadt ein Musikerzieher gesucht würde. Nicht mehr „nur“ lernen zu müssen, sondern im „richtigen“ Leben zu stehen (und dazu noch über ein regelmäßiges Einkommen zu verfügen) – was für eine schöne Gelegenheit.
Gemeinsames Singen als Teil eines umfassenden Konditionierungsprogramms
Und schon bald fand ich mich als einziger Musiklehrer unter mehr als 600 heranwachsenden jungen Frauen und sollte diese mit der Vielfalt von Musik vertraut machen. Meine Vorgängerin, so stellte ich bald heraus, hatte als gelernte Nählehrerin ein besonderes Verhältnis zur Hochkultur. Also hatte sie die Schülerinnen ein ganzes Jahr lang mit der „Entführung aus dem Serail“ zu traktieren. Damit schaffte sie es spielend, Musik zum langweiligsten Gegenstand überhaupt zu machen. Im Gegensatz zu ihr wollte ich alles anders machen und die Schülerinnen vor allem für das interessieren, was mir selbst musikalisch am Herzen lag. Die Grundlage jeglichen Musikunterrichts bildete damals die Liedersammlung „Komm, sing mit!“. „Und da gang i ans Peters Brünnele“ galt als bestmögliches, wenn auch etwas anzügliches Liedgut, um sich im gemeinsamen Singen zu erproben. Diesem traditionellen Repertoire aus den Alpenländern wollte ich zumindest fallweise Musikstücke hinzufügen, die den Schülerinnen vermeintlich näher waren: internationale Folklore (z.B. „Kalinka“ oder „hava nagila“), Negro-Spirituals, Beatles-Nummern, um bald einsehen zu müssen, dass uns dieses exotische Liedgut jedenfalls musikalisch nicht näher zusammenbringt.
Nur zu rasch sollte ich draufkommen, dass das damalige Ausbildungsziel der Schule nicht darin bestand, den jungen Frauen einen ihnen entsprechenden Weg in die Welt zu eröffnen, sondern sie für ein bestimmtes Frauenbild zu konditionieren. Dieses bestand in erster Linie in guter Haushaltsführung. Für die Mädchen, die aus dem Wr. Neustädter Umland zum Teil beträchtliche Wege zurückzulegen hatten, galt Kochen, Wäschewaschen, gutes Benehmen, darüber hinaus Pflege im benachbarten Spital als höchste Disziplin. Als Preis winkte die Verheiratung mit einem jungen Mann aus der im gleichen Gebäude untergebrachten Militärakademie. Erste Anbahnungen zwischen den Geschlechtern wurden während des gemeinsamen Balls in der Faschingssaison gestiftet.
Der Musiklehrer als „bunter Vogel“, der die Verhältnisse bestätigt
Angesichts dieser Schulprioritäten war meine Rolle als nicht weiter ernst zu nehmender „bunter Vogel“ bald festgelegt. Mit meinen langen Haaren im lässigen städtischen Outfit stellte ich so ziemlich das völlige Gegenteil von dem dar, was von einem guten, weil beispielgebenden Lehrer erwartet wurde. Und doch schien es in der Aufbruchsstimmung der 1970er Jahre dem Wr. Neustädter Establishment opportun, eine solche schräge Figur unter sich zu dulden. Immerhin konnte man sich mit mir in der Pause über das gestrige Konzert im Konzerthaus, einen neu herausgekommenen Roman oder über eine Kultursendung im Fernsehen unterhalten und bei der Gelegenheit der eigenen kulturellen Überlegenheit Ausdruck zu geben.
Wollte ich hier, so dachte ich, überleben, so musste ich die Gangart verschärfen. Also brachte ich eine Langspielplatte mit Werken mit Arnold Schönberg mit, auf dessen Cover sich ein Selbstportrait mit einem blauen Gesicht fand. Gemeinsam mit den Schülerinnen wollte ich herausfinden, warum sich der Komponist diese Gesichtsfarbe zugemutet hatte. Einmal mehr stieß ich auf eine Mauer des Schweigens. Ich schreckte auch nicht vor Ausschnitten von Walter Richard Langers legendärer Jazz-Sendung „Vokal, Instrumental, International“ zurück. Es war, als hätte ich mir Carla Bleys „Escalator over the Hill“ oder „Big Man – the Legend of John Henry“ von Canonball Adderley auf einem mit Kreide verschmierten Plattenspieler (der zusammen mit den Boxen in die jeweilige Klasse zu tragen war) ausschließlich mir vorgespielt. Über meine hilflosen Interpretationsversuche (inklusive der Inhaltsangabe der Geschichten, die ich selbst nicht verstand) geniere ich mich bis heute……
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Bild: © Michael Wimmer
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