Und doch feiern wir noch immer Weihnachten
In diesen Tagen veröffentlichte das Institut für Jugendkulturforschung seine jüngste Repräsentativ-Umfrage „Jugend und Zeitgeist“. Darin wird den jungen ÖsterreicherInnen ein gerütteltes Maß an pragmatischer Egozentrik zugesprochen. Wie nie zuvor hätten sie Abstand genommen von grundsätzlichen weltanschaulichen Positionen; ihr Bezug auf soziale Fragen beschränke sich mehrheitlich auf das, was sie unmittelbar betrifft. Beeindruckend dabei die zum Teil gravierenden Unterschiede zwischen der männlichen und der weiblichen Jugend, wenn immerhin noch 81% der jungen Frauen in der Absicht, „Geld von den Reichen zu den Armen umzuverteilen“, eine Frage der sozialen Gerechtigkeit erkennen, während dies bei jungen Männern nur mehr zu 48% der Fall ist (Ob das etwas mit der signifikant höheren Affinität der weiblichen Bevölkerung zu Kunst und Kultur zu tun hat, lasse ich hier einmal dahingestellt).
Insgesamt vermitteln die Zahlen eindrucksvoll die nachhaltigen Folgen einer auf den Prinzipien von Individualisierung in der Wettbewerbsgesellschaft basierenden Wertevermittlung. Für mehr als ein Drittel der Befragten gilt der Lebensgrundsatz: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.“ Oder andersrum: „Wer in finanzielle Not gerät, ist selbst schuld.“
Wir können annehmen, dass die hier zusammengeführten Einstellungen einer in eine chaotische Welt hineingestoßenen Jugend die gesamtgesellschaftliche Verfasstheit widerspiegeln. Entsprechend bezeichnen die vorgelegten Zahlen für die Mehrheit jedenfalls der österreichischen Jugendlichen – für die eine sich formierende Occupy-Bewegung noch immer ein Exotikum darstellt – alles andere als eine Aufbruchstimmung. Und also stimmen sie mit dem Trend von erwachsenen Mehrheiten in Richtung „Rette sich, wer kann!“ überein, dessen Konsequenzen als einzig verbleibende Antwort auf eine sich täglich neu zu überbieten trachtende Krisenberichterstattung gesehen wird.
Mit ihren Einstellungen erzählen Jugendliche von heute in ihrer Mehrheit über ihre Versuche, das Leben von heute zu meistern. Mehr noch lassen sie Rückschlüsse auf ein fundamentales Scheitern einer Erwachsenengeneration zu, die sie zu solchen Einstellungen hat kommen lassen. Das zu erfahren ist nicht angenehm. Aber ist es neu?
Friedrich Heer und die Erziehung zum Europäer
Auf der Suche nach Erklärungen zu den gegenwärtigen Entwicklungen in Europa bin ich auf den österreichischen Kulturhistoriker Friedrich Heer gestoßen. Mit der ganzen Widerborstigkeit eines konservativen Querdenkers wetterte er in den 1960er und 1970er Jahre gegen den damals herrschenden Mief im aus Versatzstücken eines altdeutschen Wohnzimmers zusammen gezimmerten Österreich. Dabei kam er – durchaus auf der Grundlage seiner profunden Studien zur Geschichte Österreichs – zum Schluss, dass allein die weitere Europäisierung der Verhältnisse in der Lage sei, die anstehenden Probleme zu lösen.
In seinem Beitrag „Erziehung zum Europäer“ aus dem Jahr 1962 (in: Heer, Friedrich (2003); Europa: Rebellen, Häretiker und Revolutionäre, Böhlau) finden sich in fast prophetischer Weise heute mehr denn je gültige Erklärungen zu den jüngsten Befunden zum jugendlichen Zeitgeist. Zu Beginn zitiert er ausgerechnet die spätere Königin der Niederlande Beatrix: „Ich glaube sagen zu können, dass es in Europa, besonders unter der Jugend, eine Leere, ein Vakuum gibt: uns fehlt ein gemeinsames Ideal. Wir haben nicht das Gefühl, einer klar umrissenen Zukunft entgegen zugehen; unser Leben hat keine realen Pläne, keine Ziele, die wir gemeinsam verfolgen.“ Als gravierende Folgen wären „Interesselosigkeit und Passivität“, „Gleichgültigkeit“, ja „Abseitsstehen und Resignation“ vieler junger Menschen zu beklagen.
Und Friedrich Heer fragt: „Kann die ältere Generation uns dabei helfen, und wenn ja, in welcher Weise? Die Älteren können unsere Lehre und Leiter sein, sofern sie nur begreifen, dass sich die heutige Jugend nicht mehr mit schönen Redensarten einschläfern lässt… Schöne Worte haben wir genug gehört. Wir wollen aufgerüttelt werden.“
Noch einmal. Dieses Zitat stammt aus 1962 und könnte doch das Elend zwischen den Generationen 50 Jahre später wenige Tage vor dem Jahreswechsel 2011/2012 nicht besser beschreiben. In seinen weiteren Überlegungen macht er auf einen fundamentalen Widerspruch aufmerksam, der möglicherweise heute die erste Ursache für ein mögliches Scheitern des europäischen Projekt beschreibt. Es ist dies der Unterschied zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Gewinnern und Verlierern, aber auch zwischen Herz und Verstand.
Es sind nicht die Märkte, sondern die sozialen Barrieren, die das Fortschreiten Europas verhindern
Für Heer war klar, dass „es leicht ist, Europäer „oben“ zu sein und sehr schwer Europäer „unten“ zu sein": Damit meinte er, dass es für wohlerzogene, höfliche und gesittete Menschen aus der – damals so apostrophierten – „guten Gesellschaft“ ein Leichtes sei, sich zu europäischen Werten zu bekennen. Für die Massen der Menschen hingegen, die in Europa um ihr tägliches Brot kämpfen müssen, schaue die Welt ganz anders aus: Unten, in den Massen einheimischer Arbeiter, die in jedem ausländischen Arbeiter den Feind, zumindest den möglichen Feind wittern, ließen sich die dominanten Einstellungen einer in tausend Jahren konflikthafter Geschichte hochgestaute „communauté dans la haine“ (Hassgemeinschaft) nicht von einem Tag auf den anderen überwinden: „Da unten, wo uralter Volkshass, Volksangst, schwelt. Leidenschaftlicher Selbstbehauptungswille von Männern und Frauen, die Angst haben, ihre Sprache, ihre patrie, ihre Seele zu verlieren… Es ist schwer, Europäer im Herzen zu sein; Herz als die Existenzmitte des Menschen, als das dynamische Zentrum, wo Wille und Leidenschaft, wo die stärksten und furchtbarsten Triebe hausen.“
Der Befund, dass die Aufrechterhaltung sozialer Barrieren die wesentlichen Barrieren für das europäische Projekt darstellen, bringt Heer dazu, einen Erziehungsbegriff zu propagieren, der in der Lage wäre, „in den Tiefenschichten“ der Lernenden anzusetzen. Diese seien weithin noch besetzt mit sehr alten Ängsten und Hasskomplexen, die sich in ebenso vielfältigen wie diffusen Ressentiments, Abneigungen und Abwehrreaktionen äußern würden und die nur sehr langsam zu einem aufgeklärten, gereiften europäischen Patriotismus weiterentwickelt werden könnten.
Erstaunlich, dass ausgerechtet der konservative Kulturhistoriker Heer weniger auf Kultur als auf Wirtschaft setzt, wenn es darum geht, die Beschäftigten „zu EuropäerInnen zu erziehen“. Er kommt dabei zu recht unkonventionellen Vorstellungen, etwa wenn er vorschlägt, den jeweiligen Belegschaften unmittelbar zu verdeutlichen, wie weit fortgeschritten der Europäisierungsgrad des Unternehmens sei und wie unabdingbar für den Fortbestand prosperierender Beschäftigungsverhältnisse. Und doch widerspricht er vehement den aktuellen Meinungsführern in Sachen europäische Krise: „Europa ist kein Museum. Und Europa ist kein Aktienpaket, das etwa durch neue Dividendenausschüttungen, durch Vermehrung von Anteilscheinen so breit aufzuwerten wäre, dass es den „gemeinen Mann“ bewegen würde, größte Einsätze – des ganzen Lebens – froh zu wagen.“
Europa braucht Phantasie, Einbildungskraft und die Erweckung der künstlerischen und schöpferischen Potenzen in jedem Einzelnen von uns
Gerade in dem Punkt bleibt er unverbesserlicher Idealist, wenn er sich für eine nicht auf die engen Grenzen der Ausbildung reduzierten Bildung ausspricht: „Auf die Formung der Kräfte in diesem Innenraum des Menschen kommt es ebenso sehr an wie auf die Erziehung der intellektuellen Kräfte.“ Und er erzählt – jedenfalls den VertreterInnen kultureller Bildung – nichts Neues, wenn er der Erziehung zur Phantasie, der Einbildungskraft und der Erweckung der künstlerischen und schöpferischen Potenzen im Einzelnen ganz besondere Bedeutung zumisst: „Menschen werden erst ganz Ja zu Europa sagen, das sie selbst mitschaffen können: nach Innen, in einem sich weitenden und vertiefenden Innenraum, und nach Außen.“
Von vielen KommentatorInnen wird Europa heute abgeschrieben. Allerorten tönt es defaitistisch: „Europa ist tot!“ Das Ausscheren Großbritanniens aus den Entscheidungen des jüngsten EU-Gipfels ist ihnen der vorerst letzte Beleg für das Brüchigwerden des stockenden Integrationsprozesses angesichts der unabsehbaren wirtschaftlichen Turbulenzen. Was sie nicht sagen, ist, dass Großbritannien immer wieder auf eine gewisse Sonderrolle gepocht hat. Peter Preston hat dazu bereits 1998 einen satirischen Roman „The 51st State“ verfasst, in dem er die Ambivalenz Großbritanniens gegenüber dem Rest Europas anhand seiner Umwandlung von einem EU-Mitglied zum 51sten Bundesstaat der Vereinigen Staaten imaginiert. Und auch der ungebrochene Wunsch von zumindest sechs europäischen Ländern, auch noch jetzt oder gerade jetzt, der Europäischen Union anzugehören, bleibt da schon einmal unerwähnt.
Die Rückmeldungen der jungen Menschen zu ihren momentanen Befindlichkeiten gibt den Euroskeptikern, die es immer schon besser gewusst haben, vorerst Recht. Der unaufhaltsame Sog in eine sinnstiftende gemeinsame Zukunft scheint – jedenfalls fürs Erste – gebrochen. Und doch: Vielleicht bedarf es des Blickes eines Historikers wie Friedrich Heer, der uns deutlich macht, dass erstens früher nicht alles besser war, und zweitens, dass alle Versuche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, immer noch in die Irre geführt haben.
Europa als ein historisch einmaliges politisches Experiment
Wenn wir stattdessen die Bildung unserer Vorstellungskraft strapazieren, dann könnte vor uns nochmals das Bild eines historisch einmaligen politischen Experiments entstehen, dessen Zeitzeugen zu sein wir das einmalige Privileg haben. „Es war eine Operation am offenen Herzen“, meinte ein Berichterstatter nach der letzten langen Nacht in Brüssel, in der sich immerhin die Regierungschefs von 26 Ländern zu einer gemeinsamen Vorgangsweise verpflichtet haben.
Und in der Tat: Das, was da passiert, ist ein ungeheurer, bislang nicht gekannter Vorgang, bei dem sich – zugegeben unter beträchtlichem wirtschaftlichen Druck – die RepräsentantInnen rund einer halben Milliarde Menschen „mit all ihren verschiedenen unbewältigten Vergangenheiten in einer unbewältigten Gegenwart in eine undurchsichtige Zukunft“ (Heer) über ein gemeinsames politisches Konzept verständigen. Sie vertrauen im Letzten darauf, in Konflikten leben zu können und doch zu gemeinsamen Lösungen zu gelangen. Und das ist wohl die eigentliche historische Tragweite, die wir als von den Tagesaktualitäten der Medien getriebene Zeitzeugen nicht aus den Augen verlieren sollten.
Denn im Vergleich zu den Einschätzungen von Friedrich Heer aus 1962 bedeutet das schiere Fortschreiten des europäischen Integrationsprozesses – über die fundamentalen Wechsel der politischen Systeme in vielen Ländern Europas hinweg – eine ungeheure Leistung. Zu rasch neigen wir dazu zu vergessen, dass 1962 das heute gerne als Krisenverursacher apostrophierte Griechenland noch von einer Militärjunta, Spanien und Portugal faschistisch regiert wurden und sich niemand vorstellen konnte, dass die Länder des Ostblocks einmal Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden könnten.
Und doch macht der Bezug zur Befragung der jungen Menschen in Österreich deutlich, was alles noch zu leisten ist. Bernd Ulrich lässt in seinem Beitrag „Stärker, besser, mehr“ in der jüngsten Ausgabe der Wochenzeitschrift Die Zeit über das Ausmaß der aktuellen Schwierigkeiten im Zweifel; „Man sieht schon, die Politiker werden noch viele Gipfel brauchen, bis wieder ein wenig Ruhe und Solidität in die Sache kommt. Die Geduld der Bürger wird dabei enorm strapaziert – und ihr Gerechtigkeitssinn.“
Und doch schließt er mit einem positiven Resümee: „2011 war ein gutes Jahr für Europa. Allerdings: 2012 muss noch besser werden… Die Lösungen werden nicht perfekt, sie werden europäisch sein.“
In diesem Sinn darf ich mich an dieser Stelle für Ihre Lesetreue in diesem Jahr ganz herzlich bedanken und uns allen wünschen, dass sowohl Friedrich Heer als auch Bernd Ulrich Recht behalten und dass sich das, was das europäische Projekt mit all seinen Rückschlägen auf immer neue Weise auszeichnet, irgendwann auch in den Befragungen zum Wertewandel der jungen Menschen niederschlägt.
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