Und noch eine vernachlässigte Kulturtechnik
Es war beim Abschied von einem Termin mit der Geschäftsführerin einer kleinen, aber feinen Marketing- und PR-Agentur. Ich habe meinen Mantel nicht gleich gefunden. Als er sich schließlich auf dem Kleiderständer zwischen all den Wintersachen zu erkennen gab, ließ sie es sich nicht nehmen, mir hineinzuhelfen. Zum Abschied meinte sie: „Jetzt freu ich mich richtig, das übernehmen zu dürfen!“
Es kann natürlich sein, dass ich zu dem Zeitpunkt besonders hilfebedürftig gewirkt habe. Vielleicht aber entsprach die Absicht schlicht dem Anspruch nach Gleichberechtigung, die nicht mehr ausschließlich dem Mann die Höflichkeitsform des In-den-Mantel-Helfens zuweist, sondern der Frau auch auf diesem Feld gleiche Rechte zubilligt. Und der Prozess des Aushandelns, wenn Mann und Frau – jeweils den Mantel des anderen in Händen – klären müssen, wer zuerst hineinhelfen darf, könnte dem Abschied ganz neue rhetorische Züge verleihen.
Mich hat der Moment jedenfalls gefreut. Und mich auf die Vermutung gebracht, auch die Formen der Höflichkeit könnten laufenden Veränderungen unterliegen, ohne dass dabei ihre grundlegende Intention, wertschätzend miteinander umzugehen, in Frage gestellt würde.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an Interviews mit Personalisten ausgewählter österreichischer Unternehmen, die wir nach ihren Erwartungen an kulturelle Bildung gefragt haben. Unisono identifizierten unsere Gesprächspartner kulturelle Bildung weniger mit Zeichnen, Singen oder Theaterspielen als mit der Fähigkeit, das eigene Selbstbild in Einklang mit der Umgebung zu bringen und sich sozial adäquat zu verhalten. Bei vielen jungen MitarbeiterInnen beklagten sie das Fehlen elementarer Umgangsformen. Weil diese in vielen Familien und auch in der Schule nicht mehr hinreichend gepflegt würden, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als selbst Kurse in den sozialen Kompetenzen wie Sich-waschen, Sich-kleiden, Essen, Pünktlichkeit oder Grüßen anzubieten.
Pluralisierung der Lebenswelten und die Schwierigkeit, sich sozial zurechtzufinden
Zur Erklärung dieses Befundes muss man kein kulturpessimistisches Klagelied anstimmen, wonach früher alles besser gewesen wäre. Stattdessen ist zu vermuten, dass das durchaus erfreuliche Brüchigwerden bisher als sakrosankt geltender sozialer Schranken zu beträchtlicher Verunsicherung im Umgang miteinander geführt hat. Dieser war bislang geprägt von einem spezifischen Kanon an Verhaltensformen, der durchaus rigide und alternativlos aufgezwungen die jeweilige soziale Gruppe definierte und über Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit entschied. Ihre Mitglieder erkannten sich daran, wie sie sich in der Gruppe zeigten und verhielten.
Die gegenwärtige Pluralisierung der Lebenswelten macht es zunehmend schwer, eine eindeutige soziale Zugehörigkeit mit klaren Verhaltensregeln aufrechtzuerhalten. Es gilt, sich nicht nur in einem, sondern in vielen „kulturellen Kontexten“ – deren Regeln keineswegs deckungsgleich sind – zurechtzufinden. Es ist davon auszugehen, dass die Fähigkeit, zwischen diesen unterschiedlichen kulturellen Anforderungen permanent hin und her zu switchen vor allem junge Menschen mit schwachem sozialen Backing vor erhebliche Probleme stellt.
Die einen geben wohl bald auf, wenn es gilt, in diesem verwirrenden Spiel mitzuspielen und beschränken sich in der Folge auf den perspektivlosen Umgang in einer unsichtbaren Subkultur. Andere schaffen immerhin einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz und werden – siehe oben – in unternehmensadäquates Sozialverhalten eingeschult. Wieder andere rekurrieren auf überkommene kulturelle Traditionen, in denen ihnen klare Handlungsanleitungen zur Aufrechterhaltung bestimmter – in der Regel religiös dominierter – Wertvorstellungen (wie Ehre, Geschlechterzuweisung etc.) einen Weg durch das gesellschaftliche Dickicht bahnen sollen.
„savoir-être“ als entscheidendes Einstellungskriterium
Bei genauerem Hinschauen deutet vieles darauf hin, dass es trotz oder gerade wegen des historisch einmaligen Grades an gesellschaftlicher Liberalität (nicht nur in sozial privilegierten Schichten) nicht einfacher, sondern ganz im Gegenteil schwerer geworden ist, sich sozial „richtig“ zu verhalten.
Die Franzosen haben dafür den Begriff des „savoir-être“ gebildet, der darüber erzählt, ob und wenn ja es dem einzelnen gelingt, sich aktiv und reflektiv in seiner sozialen Umwelt zu verorten und sich danach zu verhalten. Diesbezügliche Fähigkeiten bilden die Grundvoraussetzungen für die Persönlichkeitsbildung. Darüber hinaus – und das ist erstaunlich in einer angeblich auf das Niederringen möglichst vieler Schranken gerichteten Gesellschaft – mutiert „savoir-être“ zu einem entscheidenden Entscheidungskriterium am Arbeitsmarkt. So hat zuletzt die Zeitung „Le Monde“ über eine Studie berichtet, wonach neben dem Erbringen einschlägiger Fachdiplome der Nachweis von „compétences transversales non académiques“ zunehmend über Einstellung und Nichteinstellung entscheiden würden. Die erwähnte Studie kritisiert dabei vor allem die öffentlichen Schulen, die die SchülerInnen (vor allem aus sozial benachteiligten Schichten) nicht genügend auf die Notwendigkeit vorbereiten würde, sich in dieser Form der „interkulturellen“ gesellschaftlichen Kontexte zurechtzufinden und zu behaupten.
Grüßen und das verbale Ausloten von Gefahrenpotentialen
Wenn von Verunsicherung im gesellschaftlichen Umgang die Rede ist, dann kommt dabei dem Grüßen eine besondere Bedeutung zu. Dazu beschäftigt mich seit einiger Zeit ein spezifisches Detail, das mich fragen lässt, welche gesellschaftliche Funktion dem Grüßen zukommt. Es mag eine Obsession sein: Aber immer, wenn ich in der Natur spaziere, verfolge ich gespannt den Verlauf der Begegnung mit fremden Entgegenkommenden. Ganz offensichtlich lädt die Natur dazu ein, einander auf irgendwelchen Klettersteigen (z.B. als Bergkameraden) zu grüßen, ohne sich zu kennen.
Das Erkennen der spezifischen sozialen Zugehörigkeit (etwa an der Kleidung) scheint hier eine geringere Rolle zu spielen als der konkrete Ort, wo die Begegnung stattfindet und der Gruß ausgetauscht wird (oder die sich Begegnenden mehr oder weniger achtlos aneinander vorbei gehen). Ganz offensichtlich ist die Wahrscheinlichkeit, gegrüßt zu werden (bzw. selbst zu grüßen), umso größer, je weiter sich der Ort des Grußes von menschlichen Behausungen entfernt befindet und den sich Begegnenden die jeweilige Gegend in ihrer quasi naturischen, damit unzivilisierten Form entgegentritt. Während Grüßen beim engen Abstieg vom Berg fast selbstverständlich erscheint, beobachte ich immer wieder, dass mit der zunehmenden Verbreiterung des Weges in Richtung Ortschaft der Grad des Bestehens auf grußlose Anonymität zunimmt.
Auf ein ganz ähnliches Phänomen stoße ich übrigens auch in der Sauna. Während in den Vorräumen niemand auf die Idee käme, sich als Unbekannte zu grüßen, zwingt der Eintritt in die Saunakammer zum Gruß. Obwohl die Schwitzenden in der Regel nur schemenhaft erkennbar sind, wollen sie begrüßt werden, und ich frage mich, warum und warum nur hier?
Der Gruß als Angebot zur Vertrauensbildung
Meine Vermutung läuft darauf hinaus, dass es sich hierbei um eine Art Urreflex handelt, der uns zwingt, zumindest verbal Kontakt mit einem unbekannten Gegenüber aufzunehmen. Möglicherweise grüßen wir die Fremden nicht, weil wir jemanden finden wollen, der sich mit uns über die Natur freut, sondern weil wir herausfinden wollen (bzw. aus Gründen des Selbsterhalts herausfinden müssen), ob uns vom fremden Gegenüber Gefahr droht oder nicht. Dasselbe gilt wohl für die sehr ausgesetzte Situation, sich in der Saunakammer bloß und nackt unter Fremde zu mischen, ohne im letzten sicher sein zu können, ob mir die anderen nichts Böses wollen und ich mich nicht in Gefahr begebe.
Mit dem Gruß nehmen wir eine Kommunikation auf, die helfen soll herauszufinden, ob es das unbekannte Gegenüber gut oder böse mit uns meint. Entscheidend dabei ist nicht die Grußformel selbst, sondern die Art und Weise, in der sie gesprochen wird wird. Als Grüßende haben wir ein gutes Sensorium dafür entwickelt, um herauszufinden, in welcher Stimmung sich Antwortende befinden, welche Absichten er oder sie verfolgt und was diese für mich bedeuten können.
Wenn meine diesbezüglichen Assoziationen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, dann erschließen sich daraus Funktionen des Grußes, die weit über das Erbringen einer formellen Geste der Höflichkeit hinausweisen. Sie entstehen im Wunsch nach einer ersten Orientierung, mit wem wir es zu tun haben und auf wen wir dabei sind, uns einzulassen. Notwendig dazu sind freilich bestimmte (manche würden sagen musikalische) Fähigkeiten, die mich erst instand setzen, die eigentlichen Botschaften, die mir mit den gewählten Grußfloskeln übermittelt werden, zu dechiffrieren. Und auch diese wollen/müssen als eine weitere spezifische Kulturtechnik gelernt werden.
Ziel einer auf den Erwerb entsprechender Sensibilitäten abzielenden kulturellen Bildung könnte es sein, sich nicht darauf zu beschränken, Grüßen als Ausdruck eines sozialen Zwanges einzuüben. Nur zu gut erinnere ich mich an den bis zur Unerträglichkeit wiederholten rituellen Grüßakt während meiner eigenen Schulzeit, wenn alle Schüler beim Eintritt des Lehrers ein unendlich dröges Ritual zu wiederholen hatten, wenn es galt, sich mühsam von den Plätzen zu erheben und dann der Klassensprecher den Satz zu sagen hatte „Grüß Gott, ich grüße für alle“, der vom Lehrer mit „Danke, setzen!“ beantwortet wurde. Umso überraschter waren wir, wenn uns als zehnjährige Neuzugänge der Direktor am Gang mit Sie ansprach, auch wenn sich seine Botschaft auf die Aufforderung beschränkte: „Sie sollen am Gang nicht herumlaufen!“
Das, was am Grüßen fasziniert (und daher Wert erscheinen lässt zu lernen) ist die Möglichkeit zur Eröffnung eines unauslotbaren Erfahrungsraumes, in dem wir unserer Neugierde dem anderen gegenüber in einer rituellen und damit ungefährlichen, weil sozial akzeptierten, ja sozial erwünschten Weise Ausdruck geben können. Und während die Grußformeln ausgetauscht werden, können wir mit allen Sinnen Informationen sammeln, die für den Start jeglicher gelingenden Kommunikation entscheidend sind.
Kann es also sein, dass sich Höflichkeit nicht nur als Ausdruck einer sozialen Konditionierung zur Wiederholung sinnentleerter Codes interpretieren lässt, sondern als Möglichkeit, seiner Neugierde an der Welt Ausdruck zu geben? Wenn das so ist, dann lasse ich mir in Zukunft gerne öfter in den Mantel helfen.
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