Und wenn die Russinnen gewonnen hätten
Im Rahmen der jüngsten Podiumsdiskussion zum Thema Kulturinfarkt – Zwischen Zieldiskussion und Verteidigungskampf meinte der Kulturmanager Peter Rantasa, der schwedische Erfolg beim diesjährigen Europäischen Song Contest lasse sich vor allem auf die systematischen musikalischen Bildungsmaßnahmen, die in Schweden eingeführt worden sind, zurückführen.
Auf der Suche nach letzten Strohhalmen zur Begründung kultureller Bildung mag Loreens „Euphoria“ kurzfristig öffentlichkeitswirksam punkten. Es gilt aber auch der Umkehrschluss, dass möglicherweise mit den künstlerischen Qualitätsanforderungen kultureller Bildung in Schweden (und anderswo) etwas nicht stimmen kann, wenn dieser Song zum zentralen Ergebnis hochstilisiert werden muss. Oder um es noch deutlicher zu sagen, dass man die diesbezüglichen Bemühungen um eine breitenwirksame kulturelle Bildung möglichst schnell beenden sollte, wenn letztendlich „Euphoria“ herauskommt.
Der Bezug wird noch etwas heikler, wenn man sich die Zweitplazierten des ESC genauer ansieht. Immerhin konnten die Buranowski Babuschki mit ihrem Song Party for Everybody! die zweithöchste Stimmenzahl auf sich vereinen. Mit ihrer roten Tracht aus einem 600 Einwohner Seelendorf in der „udmurtischen Pampa“ waren die sechs – wie es in der Ankündigung hieß – „kleinen russischen Großmütter mit ihrer folkloristischen, glaubwürdigen und herzerweichend niedlichen Nummer“ keine Neulinge. Sie kamen bereits 2010 in die russische Vorentscheidung und genießen seither im Land so etwas wie Kultstatus. In ihrem Fall kann wohl erst gar nicht von einem Ergebnis systematischer kultureller Bildung gesprochen werden; eher von einem gelungenen Marketing-Coup eines russischen Fernsehsenders, der auf diese Weise zu beweisen vermochte, dass „Boom! Boom!“ aus dem Mund von Omas aus Buranowo für den Durchschnittszuschauer mittlerweile europatauglich geworden ist.
Die jährliche Wiederkehr des Rituals „Song Contest“, dessen Endausscheidung Österreich mit der oberösterreichischen Gruppe „Trackshittaz“ einmal mehr verfehlt hat (nach obiger Argumentation eigentlich unverständlich, wenn Oberösterreich als das Mekka des österreichischen Musikschulwesens gilt), stellt für VertreterInnen der kulturellen Bildung eine besondere Herausforderung dar. Kurzfristig wird das Mitverfolgen erträglicher, wenn der Verlauf von den zynischen und zunehmend alkoholgeschwängerten Kommentaren von Stermann & Grissemann begleitet wird und man die eigene Verlegenheit weglachen kann. Mit wachsender Distanz aber rückt die Frage in den Vordergrund, ob dass alles eigentlich wahr sein kann und was an kulturellen Bildungsmaßnahmen falsch gelaufen sein muss, damit es zu einer solchen massenhaften Geschmacksverirrung kommen konnte.
Lieber keine schlechte kulturelle Bildung als irgendeine
In Anne Bamfords Wow-Factor findet sich die These, dass kulturelle Bildung nicht per se gut ist. Es gäbe durchaus schlechte Formen kultureller Bildung und sie empfiehlt dringend, statt irgendwelchen gar keine Aktivitäten anzubieten. Nun scheint es den AkteurInnen in dem Feld besonders schwer zu fallen, das was schlecht ist zu identifizieren, zu bezeichnen oder gar damit aufzuhören. Es ist, als wabere ein Tabu über der Frage der jeweiligen künstlerischen Qualitätsansprüche, die das Dogma infrage zu stellen droht, kulturelle Bildung sei doch in erster Linie darauf gerichtet, junge Menschen ohne jede Wertung zum Singen, Tanzen und Musizieren anzuregen (und ihnen diese Tätigkeit Spaß macht).
Diese Art von Spaß findet dann seine Entsprechung auf der großen ESC-Bühne in Baku: Ja auch dort wird gesungen, getanzt und musiziert. Und das auf eine Weise, die vor allem die völlige Belanglosigkeit dessen, was da geboten wird, zur Kenntlichkeit verzerrt. Und vielleicht sind die Veranstalter auf diese Art von Belanglosigkeit ja auch noch stolz, weil genau das ihren Vorstellungen von inhaltsentleerter Unterhaltung entspricht, die die russischen Babuschkas davon singen lässt, „wie sie sich selbst und das Zuhause schön herrichten und sich freuen, dass die Kinder und Verwandten nach Hause kommen. Dann gibt es eine Party für alle und man tanzt und singt gemeinsam. Boom! Boom!“.
Kulturelle Bildung als Beitrag zur europäischen Belanglosigkeit. Nicht ganz, ein kleiner Hoffungsstrahl taucht noch einmal auf, wenn die Votings auf so manche regionale Komplizenschaft hindeuten, die der gut meinende Außenstehende auf der Suche nach europäischer Diversität als Fortbestand regional bestimmender ästhetischer Vorlieben zu interpretieren versucht. Und dann feststellen muss, dass sich dabei doch nur die jeweiligen Lobbys der Musikindustrie das Geschäft untereinander ausmachen.
Kann und soll kulturelle Bildung geschmacksbildend sein?
Was mich in diesem Zusammenhang beschäftigt ist die Frage nach der geschmacksbildenden Kraft kultureller Bildung. Ist es angesichts der gegenwärtigen Vielfalt des kulturellen Angebotes überhaupt noch legitim, den Anspruch auf ein auf der Grundlage von Bildung entwickeltes Geschmacksurteil aufrechtzuerhalten oder hat sich die kulturelle Bildungsszene in einer missverstandenen Interpretation demokratischer Mitwirkung klammheimlich bereits längst darauf verständigt, die Sache selbst und damit das Singen und Tanzen und was es sonst noch an ästhetischen Ausdrucksformen zu einer Art inhaltsleerem Selbstzweck zu verklären?
Demnach würden die allerorts propagierten positiven Effekte wie Förderung der Lernmotivation, soziale Integration, Abbau von Gewaltbereitschaft und was sonst noch alles zu gerne ins Treffen geführt wird, keiner inhaltlichen Absicht entsprechen müssen, sondern sich mit dem weitgehend absichtslosen ästhetischen Handeln quasi von selbst einstellen. Und damit kann auf eine mühsame inhaltliche Ausgestaltung dessen, was mit ästhetischen Mitteln ausgedrückt werden soll, weitgehend verzichtet werden.
Dieser Tendenz entsprechend fällt mir auf, dass in und rund um Diskussionen zu kultureller Bildung die Fähigkeit zur „ästhetischen Urteilsbildung“ und damit der Geschmacksbildung wenn überhaupt, dann nur ein sehr geringer Stellenwert eingeräumt wird. Es scheint bestenfalls als ein zu überwindendes Überbleibsel einer bildungsbürgerlichen Attitüde, deren TrägerInnen in ihrem Standesdünkel vermeinten, sich mithilfe des eigenen Geschmacksurteils von anderen abgrenzen zu können.
Außen vor bleibt hingegen der Umstand, dass die Fähigkeit, zu einem qualifizierten Geschmacksurteil zu kommen, nicht angeboren ist, sondern nach wie vor mühsam erworben werden will und es darum geht, sich mit künstlerischen Arbeiten intensiv auseinanderzusetzen, sie zu durchdringen zu versuchen und auf der Grundlage zu Aussagen zu kommen, die über „Es hat mir gut gefallen!“ oder „Russia twelve points“ hinausweisen.
Bedingt demokratische Verfasstheit die Geschmacklosigkeit der BürgerInnen?
Ein Geschmacksurteil setzt eine ebenso begründete wie überzeugende Haltung gegenüber ästhetischen Ausdrucksformen voraus (egal ob diese selbstgestaltet oder von anderen präsentiert werden) und es will mir nicht in den Kopf, dass eine demokratische Gesellschaft auf diesbezügliche Fähigkeiten verzichten kann, nur deshalb, weil diese die längste Zeit von einer kleinen Elite zur Schaffung sozialer Distinktionsgewinne missbraucht worden sind.
Gerade dort, wo „Individualisierung“ zu einem Leitbegriff der aktuellen Bildungsentwicklung geworden ist, scheint es mir ein vorrangiges Lernziel, möglichst viele Menschen mit der Fähigkeit auszustatten, eine begründete Haltung zu dem, was sie ästhetisch umgibt, zu entwickeln und daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen.
Wahr ist, dass die zentralen geschmacksbildenden Instanzen, sei es die Schule oder die traditionellen Kunst- und Kultureinrichtungen, die bislang für sich beansprucht haben, nicht nur handlungs-, sondern auch haltungsleitend zu sein, zunehmend an Überzeugungskraft verlieren. Die Antwort kann jedoch nicht sein, damit auf ästhetische Haltungen überhaupt zu verzichten, sondern neue Settings zu entwerfen um diese individuell zu entwickeln und aneinander zu erproben.
Für das System Kulturelle Bildung könnte das heißen, nicht weiter darauf zu vertrauen, mit der Teilnahme an kulturellen Aktivitäten entwickelte sich das ästhetische Geschmacksurteil quasi von selbst. Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Viel wahrscheinlicher ist eine weitere ästhetische Verwahrlosung (die in der Regel einhergeht mit ihrer sozialen Entsprechung); eine Tendenz, die sich etwa mit der Verflachung weiter Teile des Fernsehprogramms auf beeindruckende Weise belegen lässt (umso erfreulicher, dass sich immer mehr junge Menschen als regelmäßige Fernsehkonsumenten abmelden, was Fernsehen zunehmend zu einem Medium der Alten macht – vielleicht auch daher die Entscheidung für die Babuschkas).
Zugegeben, dagegen anzutreten stellt für KulturpädagogInnen eine große Herausforderung dar. Immerhin besteht ihr Ausgangsmaterial aus den beherrschenden ästhetischen Klischees einer machtvollen Kulturindustrie, die die Geschmacksbildung der jungen Menschen ebenso nachhaltig wie scheinbar mühelos beeinflusst. Da bleiben sie mit ihren eigenen ästhetischen Ansprüchen – sofern sie solche haben – nur zu leicht auf verlorenem Posten.
Und doch: Erst wenn sie sich selbst aus der Deckung wagen und – als glaubwürdige Vorbilder – von ihrem eigenen, individuell erarbeiteten und begründeten ästhetischen Urteilsvermögen Gebrauch machen, werden sie andere motivieren können, ihnen zu folgen.
Wenn sie es nicht tun, dann hat Rantasa Recht und Kulturelle Bildung verkommt sowohl auf ProduzentInnen- als auch auf KonsumentInnenseite zum Zulieferbetrieb für den nächsten Europäischen Song Contest. Und dann können sie es gleich sein lassen.
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