„Vielleicht hat die Musik aufgehört zu spielen, und die Menschen tanzen immer noch weiter“
Dieses dem internationalen Investor George Soros zugeschriebene Zitat bringt den Eindruck, den ich von der letzten International Conference on Cultural Policy Research (ICCPR) mitgenommen habe, auf den Punkt. Zum bereits siebenten Mal versammelten sich rund 300 KulturpolitikforscherInnen aus der ganzen Welt diesmal in Barcelona, um den aktuellen Zustand ihres Faches zu diskutieren.
War die Szene bislang stark von anglo-amerikanischen Einflüssen geprägt, die zusammen mit einigen skandinavischen VertreterInnen die Tagesordnung bestimmt haben (während die deutschsprachige Forschungsgemeinschaft traditionell nur sehr kursorisch vertreten ist) war mit dem Austragungsort Barcelona die große Hoffnung verbunden, diesmal verstärkt VertreterInnen der spanisch und portugiesisch sprechenden Länder einzubeziehen und sich damit von neuen Inhalten und Methoden inspirieren zu lassen.
Stattdessen business as usual; jedenfalls was die internationalen Gäste betrifft. Die nationalen Veranstalter hatten immerhin eine öffentliche Diskussion zum Thema „Kultur und Krise“ angekündigt. Da diese aber ausschließlich in spanischer Sprache verhandelt wurde, blieben die „Einheimischen“ in der Einschätzung der aktuellen Krisenerscheinungen auf die Kulturpolitik weitgehend unter sich.
Kulturpolitik im universitären Elfenbeinturm
Der überwiegende Teil des Kongresses wurde entlang einer Agenda abgewickelt, die sich kaum von der aus den vergangenen Jahren unterschieden hat und so nicht den Willen erkennen ließ, auch nur ansatzweise die dramatischen Veränderungen zu reflektieren, denen das Kunst- und Kulturgeschehen heute ausgesetzt ist, zu reflektieren. Zu diesen Veränderungen gehören die überdurchschnittlichen Kürzungen einer Reihe nationaler Kunst- und Kulturbudgets – auch und gerade in Spanien. Sie belegen eindrucksvoll die systemische Schwäche von Kulturpolitik, die – obwohl ihre Mittel auf Grund ihrer relativen Geringfügigkeit am wenigsten zur Budgetkonsolidierung beizutragen vermögen – als erstes den Sparzwängen geopfert wird.
Da diese gravierenden Einschnitte in den Niederlanden, Italien, Ungarn, England, Spanien, nicht zu reden von Griechenland unter ganz unterschiedlichen politischen Vorzeichen stattfinden, deutet vieles auf eine grundsätzliche Schwäche staatlicher Kulturpolitiken in Europa hin, die erst in der Schlussveranstaltung vom französischen Soziologen Pierre-Michel Menger einer grundsätzlichen Analyse unterzogen wurde (für ihn deutet vieles darauf hin, dass sich im globalen Wettbewerb die kulturpolitischen Kompetenzen zunehmend von der staatlichen Ebene auf einige wenige urbane Zentren verlagern, die sich mit der Produktion kultureller Unterscheidbarkeit Standortvorteile erhoffen).
In der österreichischen Diskussion kommt in diesem Zusammenhang der kulturpolitische Erfolg zu kurz, dass es gelungen ist, auf nationaler Ebene die Kunst- und Kulturbudgets zumindest vorerst stabil zu halten (was bislang gereicht hat, den Verteilungskampf zwischen etablierten Einrichtungen, die den Großteil der Mittel für sich beanspruchen, und freien Initiativen nicht offen ausbrechen zu lassen). Ganz anders die Situation in manchen Bundesländern wie der Steiermark, deren Politiker in großkoalitionärer Eintracht ihr kulturpolitisches Engagement zuletzt massiv zurückgefahren haben. Dass bei der Gelegenheit auch gleich institutionelle Errungenschaften wie die Einführung des Landeskulturbeirates per Gesetz zurückgenommen werden, macht deutlich, dass es hier nicht um temporär notwendige Adaptionen, sondern um Substanzfragen geht.
Jedenfalls in den paper presentations, an denen ich teilgenommen habe, konnte ich nicht den Willen erkennen, die Frage der Funktion und Stellung staatlicher Kulturpolitik, ihrer Institutionen und Maßnahmen im Zeichen der Krise noch einmal einer grundsätzlichen Neuverortung zu unterziehen. Stattdessen überwog der Anschein als hätte sich der Mainstream der KulturforscherInnen nach den Jahren überbordender Hoffnungsproduktion zugunsten der Cultural and Creative Industries, die Kulturpolitik weitgehend zu Kulturwirtschaftspolitik hat mutieren lassen, vom Glauben an staatliche Interventionsformen in Sachen Kulturpolitik bereits weitgehend verabschiedet.
Implicit gewinnt vor Explicit
So ist es nicht verwunderlich, dass die vom englischen Kulturpolitikforscher Jeremy Ahearne kreierte Unterscheidung explicit versus implicit cultural policy (siehe dazu seinen Beitrag: 'Cultural Policy Implicit and Explicit: A Distinction and Some Uses' im International Journal of Cultural Policy, 15/2, 2009) zu einem zentralen Gegenstand der Diskussionen wurde. Der Charakter des Impliziten und damit die Verhandlung ausgewählter kultureller Wertvorstellungen in den nationalen Bevölkerungen (Pessimismus, Optimismus, Religion,…), deren VertreterInnen offensichtlich versuchen, Kulturpolitikforschung im Feld der Cultural Studies neu zu verorten, gab dabei die Richtung vor.
Mit diesen Rettungsversuchen wurde deutlich, dass jedenfalls die in Barcelona vertretene Kulturpolitikforschungsgemeinschaft ihren Glauben an die Durchsetzbarkeit politischer Interessen zur Begründung und Spezifikation staatlicher Kulturpolitik angesichts der krisenhaften Erschütterungen der demokratischen Verfassungen vor allem in Europa weitgehend aufgegeben hat. Diesbezügliche Rekonstruktionsversuche aus der Sicht universitärer Forschung sind jedenfalls in Barcelona weitgehend ausgeblieben.
Erstaunlich ist in dem Zusammenhang, dass diese theoretisch gestützte Niedergangsattitüde gerade in den Ländern, die nur schwach vertreten waren, zurzeit eine maßgebliche Relativierung erfährt. So haben zuletzt eine Reihe von sogenannten Schwellenländern, allen voran China, den politischen Wert der Kultur als einer „soft power“ erkannt und staatlicherseits Maßnahmen zur Durchsetzung eines dem entsprechenden kulturpolitischen Schwerpunkts entwickelt. So hat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas zuletzt mit der Veröffentlichung eines grundlegenden Dokuments „Vertiefung der Reformen des Kultursystems“ Kultur zum Hauptthema der nationalen Entwicklung erklärt.
Können europäische Demokratien auf Kulturpolitik verzichten?
Und so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir Zeugen einer Entwicklung werden, in der sich die europäischen Demokratien ihre kulturpolitischen Instrumentarien ohne viel Gegenwehr aus der Hand schlagen (und auch noch theoretisch bestätigen) lassen, während etwa autoritäre Regime (aber auch prosperierende Demokratien in Lateinamerika) zunehmend auf die politische Karte der Kultur setzen, um damit wahlweise eine bessere „Lenkung der öffentlichen Meinung“, den „Kampf gegen Moralverfall“ oder eine „Verbesserung der nationalen Stellung in einer neuen Weltordnung“ sicherzustellen.
Von all dem war im Lauf der Konferenz bestenfalls am Rande die Rede. Und so ist es vielleicht mehr als ein Zufall, dass just zum selben Zeitpunkt ein Artikel von Michael Schindhelm in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Richard Wagner, Parsifal und die Provinz“ erschien, in dem der Intendant mit Berufserfahrung als Kulturmanager u.a. in Dubai die These vertreten hat, dass sich Europa in Sachen Kultur immer weniger als ein „nachahmenswertes Beispiel“ eignen würde: „Seit ein, zwei Jahren beschäftigt man sich auf internationalen Konferenzen mit großer Vorliebe mit der Zukunft der weltweiten Kulturentwicklung. Dabei fällt auf, dass nicht nur der Anteil der Teilnehmer aus Schwellenländern rapide wächst, sondern auch, dass der der Europäer ebenso rapide sinkt. Ein Kollege aus Indien sagte dazu einmal, man wolle nicht ständig das Lamento über Europas Nöte hören. Deshalb lasse man uns Europäer lieber gleich draußen.“
Was hier zum Ausdruck kommt, fand in der Veranstaltung von iccpr durchaus seine Entsprechung, wenn sich weit und breit kein Anspruch erkennen ließ, Kulturpolitik als Ort der Ideologieproduktion bzw. der Entwicklung handlungsleitender Zukunftsszenarien zu diskutieren. Gerade dort, wo allerorten anti-demokratische, nationalistische oder sonst wie autoritäre Kräfte (auch und gerade in Europa) drauf und dran sind, die Oberhand zu gewinnen, fanden sich kaum Stimmen, die bereit waren, der Kulturpolitik noch einmal eine wichtige Stellung in der Verteidigung demokratischer Errungenschaften einzuräumen. Allzu weit fortgeschritten scheint bereits die Überwältigung von Kunst und Kultur durch die Macht ökonomischer Diktate, die – und daher rührt wohl das tiefe Gefühl der Uninspiriertheit der TeilnehmerInnen – auf keinerlei politische Alternativen mehr verweist. Und so haben die TeilnehmerInnen auch einen beredten Beleg dafür bekommen, wie sich die europäischen Demokratien mit einer voreiligen Preisgabe ihrer kulturpolitischen Ansprüche das Wasser weiter abgraben.
Besonders aufgestoßen ist mir beim Lesen des Beitrags von Schindhelm just in Spanien – wo jeder über die Bankenkrise redet und im Vergleich dazu die Ungeheuerlichkeit einer Jugendarbeitslosigkeit von rund 50% vergleichsweise unterbelichtet bleibt – folgende Beschreibung: „Ein hoher Beamter des chinesischen Kulturministeriums, selbst etwa 35 Jahre alt, berichtete kürzlich vom Besuch bedeutender europäischer Intellektueller. […] Der jüngste Teilnehmer der Delegation hätte die Fünfzig längst überschritten, sodass die chinesische Seite eher wie eine Juniorenbesetzung gewirkt habe. Kann man ohne junge Menschen über die Zukunft nachdenken?, fragte mich der Chinese.“
Nein, ohne junge Menschen kann man nicht über Zukunft nachdenken. Und auch bei iccpr 2012 waren junge KulturpolitikforscherInnen vertreten, auch wenn sie mit ihren Herkunftsbezügen vor allem aus Südostasien und Lateinamerika die Vorurteile Schindhelms noch einmal eindrucksvoll bestätigten. Daher war ich besonders froh, dass meine beiden jungen KollegInnen Anke Schad und Peter Szokol mit einem Beitrag zum laufenden europäischen EDUCULT-Forschungsprojekt Arts Education Monitoring System den Altersdurchschnitt der TeilnehmerInnen nachhaltig nach unten gedrückt haben.
Die Piraten als Anwalt von Kulturpolitik der Zukunft?
Tendenziell ausgeblendet blieben auch die kulturpolitischen Konsequenzen der digitalen Revolution (auch wenn sie im Titel des Eröffnungsvortrags von Vera Zollberg angesprochen, dann aber nicht eingelöst wurden). Wohl einer der Hauptgründe, warum sich Kulturpolitik zunehmend das Etikett „alt“, „überkommen“, vor allem aber „irrelevant“ umhängen lassen muss.
Dazu noch eine – zugegeben kühne – Assoziation aus österreichischer Sicht. Immerhin mutierte hierorts der „freie Eintritt“ von jungen Menschen zuletzt zumindest in Teile des etablierten Kulturbetriebs (Bundesmuseen) zum zentralen kulturpolitischen Thema. Übertragen auf die „modernen Zeiten“ des Internet mündet der Anspruch eines „freien Zugangs“ zu kulturellen Inhalten aller Art unmittelbar ins Fahrwasser der Piratenpartei, für die eben dieser Anspruch als Ausdruck demokratischer Chancengleichheit ein wesentliches Entstehungsmotiv gewesen ist.
Daraus zu folgern, die Piraten wären in ihrem Kampf gegen Acta und für eine Kulturflatrate drauf und dran, sich mit der Selbstfesselung staatlicher Kulturpolitik (die sich bislang weigert, sich mit der zentralen Frage der neuen kulturellen Produktions-, Rezeptions- und Interaktionsformen im digitalen Zeitalter in adäquater Weise auseinanderzusetzen) als neue entscheidende kulturpolitische Akteure zu positionieren, ist vielleicht zu früh. Eine Gedankenanregung ist es allemal.
Daher an dieser Stelle schon jetzt eine Anregung an die Veranstalter von iccpr 2014: Piraten nicht vergessen!
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)