
Von der Salonkultur zur Vermittlungsaktion
Am 19. Oktober hätte die Grande Dame der österreichischen Nachkriegsliteratur Hilde Spiel ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Zu diesem Anlass hat der Innsbrucker Studienverlag einen Sammelband von Ingrid Schramm und Michael Hansel mit dem Titel „Hilde Spiel und der literarische Salon“ herausgegeben. In diesem Buch wird aus verschiedenen Seiten das bewegte Leben dieser Kunstvermittlerin par excellence nachgezeichnet. Es führte sie von der Schule Eugenie Schwarzwalds über das englische Exil hin zu zentralen Funktionen der österreichischen Nachkriegsliteratur. Darin änderte auch eine männerbündische Borniertheit nichts, mit der sie ausgesetzt war als sie sie sich als Präsidentin des österreichischen P.E.N.Clubs bewarb. Inmitten des Kalter-Krieg-Spielens blieb es ihrem „Freundfeind“ Friedrich Torberg vorbehalten, gegen ihre Ambitionen erfolgreich zu intriigieren. Das hinderte sie nicht daran, sich als kritische Beobachterin des Zeitgeschehens für eine Reihe damals junger AutorInnen wie Ingeborg Bachmann oder Thomas Bernhard einzusetzen.
In einer Vielzahl von Veröffentlichung setzte sie sich mit dem österreichischen Kunstschaffen auseinander, mit dem Ziel, eine breitere Öffentlichkeit für das Thema zu interessieren. In der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens versuchte die 1911 in Wien geborene Hilde Spiel immer wieder Anschluss an eine Salonkultur der Jahrhundertwende zu nehmen, deren halböffentlicher Ort für sie als der Inbegriff der intellektuellen und künstlerischen Auseinandersetzung und damit als der „Hort der Aufklärung“ galt.
Nicht zufällig widmete sie Fanny von Arnstein eine umfängliche Biographie, die mit ihren Salons in Berlin und später in Wien erstmals eine Zukunftsstätte bildungshungriger und intellektuell ambitionierter Frauen schuf, nach dem die nachnapoleonische Repression die Flucht ins Private erzwungen hatte. Für Spiel scheint es noch völlig selbstverständlich, dass der Wille, sich mit künstlerischen Dingen zu beschäftigen, unmittelbarer Ausdruck eines bürgerlichen Emanzipationsanspruchs war, der sich zum damaligen Zeitpunkt unmittelbar politisch nicht realisieren ließ. Umso heftiger wurden künstlerische Positionen als politische Haltungen in den Salons diskutiert, die auf diese Weise zu Orten der verbalen Aneignung und damit zu frühen Formen der Vermittlung mutierten. In der zum Gespräch einladenden Gemütlichkeit biedermeierlicher Wohnungen entwickelten sich Formen der gepflegten Gesprächskultur, die einerseits intimen Gedankenaustausch, andererseits kontroversielle Diskussionen in größerer Runde (ohne unmittelbare politische Repressionen befürchten zu müssen) erlaubten.
Diese Tradition personaler Kunstvermittlung einer vom politischen Geschehen ausgegrenzten „zweiten Gesellschaft“ reichte weit ins 20. Jahrhundert; in der Nachfolge von Fanny von Arnstein (die übrigens auch die Tradition des weihnachtlichen Christbaums von Berlin nach Wien gebracht hat) profilierten sich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Pauline Metternich, Bertha Zuckerkandl oder Alma Mahler-Werfel als die wesentlichen Gastgeberinnen von zum Teil höchst illustrer Runden künstlerisch ebenso wie politisch Interessierter einer aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft.
Entscheidend scheint mir zu sein, dass die Teilnahme an diesen Salons unmittelbarer Ausdruck einer spezifischen „Kulturbeflissenheit“ war, die sich angesichts einer verordneten politischen Abstinenz vor allem bei einem liberalen, mehrheitlich jüdischen Bildungsbürgertum herausgebildet hatte. Den BesucherInnen der Salons war es also ein ganz unmittelbares, Gemeinschaft bildendes Anliegen, sich mit der Vielfalt des künstlerischen Geschehens auseinander zu setzen. Für sie war es so etwas wie eine soziale Pflicht, sich an diesen Diskussionen zu beteiligten und die MitdiskutantInnen versprachen sich mit ihrer Zugehörigkeit zum einen oder anderen Salon gesellschaftliche Vorteile.
In der Zwischenzeit ist diese Tradition an ihr Ende gekommen. Mit ihr die soziale Gruppe des Bildungsbürgertums, das vemeint hat, sein Selbstverständnis aus der Beschäftigung mit Kunst definieren zu können bzw. zu müssen. An ihre Stelle sind mittlerweile andere gesellschaftliche Aufstiegshilfen getreten, die die ursprüngliche „Kulturbeflissenheit“ (wer würde heute noch einmal dieses Wort in den Mund nehmen) ersetzt haben. Und so führen uns heute diverse medial gehypte Celebrities vor, dass man – ohne auch nur einen geraden Satz herausbringen zu können – reich und berühmt werden kann (wobei sich der Boulevard darin überbietet, jeden Bildungs- und damit auch Leistungsanspruch ad absurdum zu führen, wenn er in seiner Berichterstattung täglich neu suggeriert, die Unfähigkeit eins verbal artikulierten Geschmacksurteils stelle eine entscheidende Grundbedingung für Erfolg dar).
Geblieben aber sind die großen Kultureinrichtungen, die als Orte der Kunstproduktion dabei sind, ihre sozialen Trägerschaft zu verlieren. Wenn deren VertreterInnen ihrerseits beginnen, Vermittlungsangebote zu entwickeln, so sehe ich große Ähnlichkeiten mit der ursprünglichen Salonidee. Auch ihre Intentionen kreisen um das Bemühen, geeignete Aneignungsformen zu entwickeln, die Menschen in die Lage versetzen, sich mit Kunst auseinander zu setzen und dafür ein verbales Instrumentarium zu entwickeln.
Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Dieser liegt in der Ausgangslage der potentiellen NutzerInnen. Sieht man von einigen späten Nachfahren von Familien mit bildungsbürgerlichem Hintergrund ab, so findet man bei der Mehrheit derselben keinerlei „Kulturbeflissenheit“ mehr. Wenigen VermittlerInnen wird das Glück zu teil, auf einen kreatürlichen „Hunger auf Kunst und Kultur“ zu treffen, der endlich gestillt werden will. Eher das Gegenteil ist der Fall. Und so wird es unter den VermittlerInnen als vordringlichste Aufgabe angesehen, überhaupt erst einmal Aufmerksamkeit, vielleicht sogar Interesse für die Sache der Kunst zu wecken. Die Erwartung, die Auseinandersetzung könnte irgendwann an die Qualität dessen, wie Kunst in den Salons verhandelt worden ist, heranreichen, bleibt hingegen zumeist ein unerreichbarer Traum.
Dieses Nachlassen diesbezüglicher Ambitionen eines kunstaffinen Publikums hat natürlich mit den gravierenden demographischen Veränderungen zu tun. Der Hauptgrund aber scheint mir darin zu liegen, dass der unmittelbare Vorteil, der in der Beschäftigung mit Kunst liegt, immer schwerer vermittelt werden kann. Für die BesucherInnen der Salons der Jahrhundertwende stand außer Frage, dass mit ihre Teilnahme ein Anspruch verbunden ist, am öffentlichen Leben teilzunehmen und dieses mit zu beeinflussen.
Die heute an Vermittlungsprogrammen Beteiligten erfahren vielleicht, dass die Beschäftigung mit Kunst für alles Mögliche gut sein kann. Im letzten aber spüren sie die Erwartung, dass sie so werden sollen wie die VermittlerInnen selbst, keine sehr vielversprechende Vorstellung, wenn man deren prekäre Lage betrachtet. Stattdessen verdichtet sich die Vermutung, dass sich mit der Teilnahme an Vermittlungsprogrammen an ihrer sozialen Situation nichts ändern wird und sie daraus keinen gesellschaftlichen Nutzen zu ziehen vermögen. Kunst – wie sie von den Kultureinrichtungen angeboten wird – erscheint ihnen – von wenigen individuellen Ausnahmen abgesehen – schlicht irrelevant für die Gestaltung ihres Lebens. Entsprechend verbinden sie damit nicht die Erreichung bestimmter individueller oder gar kollektiver Ziele. Da sind ganz andere, machtvollere Faktoren ausschlaggebend, die sich aber im Zuge der schleichenden Entdemokratisierung weitgehend ihrer Mitbestimmung entziehen.
Das ist wohl einer der Hauptgründe dafür, dass der Vermittlungsgedanke von vor hundert Jahren von den Akteuren ausgegangen ist: Sie haben sich engagiert, weil sie sich davon etwas versprochen haben. Dieser „bottom up approach“ ist heute ersetzt durch einen paternalistischen Zugang, der VermittlerInnen dazu bringt, „dop down“ etwas zu versprechen, auf was die potentiellen NutzerInnen von allein nicht mehr kommen würden. Also sollen sie noch einmal zu ihrem Glück gezwungen werden, ob sie wollen oder nicht.
Das Absurde an der Geschichte: Die meisten dieser Vermittlungsbemühungen geben vor, sich nicht in erster Linie an die traditionellen Kernklientel und damit an die verbliebenen kulturellen Trägerschichten zu richten sondern an benachteiligte Randgruppen und davor allem an migrante Gruppen.
In der täglichen Zusammenarbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund fällt mir auf, dass sich ausgerechnet unter ihnen noch einmal so etwas wie „Kulturbeflissenheit“ breit macht: Überdurchschnittlich viele von ihnen bemühen sich ganz besonders um kulturellen Kompetenzerwerb und interessieren sich für das kulturelle und darüber hinaus das gesellschaftspolitische Geschehen. Die Gründe liegen auf der Hand: Sie wollen eine Rolle in der Gesellschaft übernehmen, sie wollen Einfluss nehmen, sie wollen ihr Leben selbst gestalten und sie wollen Verantwortung übernehmen. Dafür sind sie bereit, sich zu engagieren und einzusetzen.
Mit ihren Ansprüchen an sich und die Gesellschaft erinnern sie unmittelbar an die TeilnehmerInnen der Salons (sie kamen übrigens aus allen Ecken der Monarchie) im Haus der VermittlerInnen der ersten Stunde, ob es sich dabei um das Haus Arnstein, Zuckerkandl, Mahler-Werfel oder eben das „Haus am Bach“ in Wolfgangsee, in dem Hilde Spiel ihre Gäste empfing handelt. Sie alle wollten nicht mehr und nicht weniger als die Gesellschaft (zum Besseren) verändern.
Die VermittlerInnen von heute (auch sie sind übrigens in der Mehrheit weiblich) treffen auf eine andere Klientel. Von dieser kann das, was sie anbieten, in seiner existentiellen Bedeutung gar nicht mehr wahrgenommen werden. Es mutiert statt dessen bestenfalls zu einer, die drögen Tagesroutinen irritierenden Zerstreuung während das reale Leben weitgehend unvermittelt daneben herläuft.
Nett, aber irrelevant könnten diese sagen, um sich nach der Teilnahme am jeweiligen Vermittlungsprogramm wieder in ihre eigenen Kulturräume, in denen die „zweite Gesellschaft“ von heute ihre Heimat gefunden hat, zurückzuziehen, um dort ihren eigentlichen Ambitionen nachzugehen.
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