Von Wanderjahren und Museumsselfies
„Access to Culture“ heißt ein europäisches Forschungs- und Kooperationsprojekt, das sich als Politikfeldanalyse zum Zugang zu Kunst und Kultur versteht. Von NutzerInnen, ProduzentInnen und politischer Mitsprache ist da die Rede, von „five aspects of access to culture“, von der steigenden Relevanz des Privatsektors und nicht zuletzt davon, dass „access“ eine implizite Forderung darstellt, ja ein Querschnittsthema ist. So weit so gut.
Keine ganz neue Erkenntnis und auch kein neues Thema, könnte man entgegnen, arbeitet sich doch seit 40 Jahren die sogenannte „neue Kulturpolitik“ (und mit ihr die „neue“ Kulturelle Bildung) genau daran ab: Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik, Kultur für alle und von allen, Demokratisierung der Kultur und Demokratisierung der Gesellschaft durch Kultur. Insbesondere Hermann Glaser hat dazu mit seiner Schrift „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur“ aus dem Jahr 1974 beigetragen. Kunst und Kultur als Möglichkeits-, ja als Spielräume, in denen gesellschaftliche Veränderung erprobt, durchgespielt und vorbereitet wird – das war die Grundhoffnung. Kulturpolitik, so verstanden, erlebte in den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts eine Hochzeit insbesondere auf kommunaler Ebene. Eine der zentralen Hebel war dabei das Verständnis von Kulturpolitik als Querschnittsthema der gesamten kommunalen Politik. Trotzdem sind die Ergebnisse der neuen Kulturpolitik deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben: Nach wie vor herrscht kein Mangel an Barrieren zu kultureller Teilhabe und statt eines echten Konzepts kultureller Vielfalt setzte sich vielerorts die Ungleichheit in kulturalistischer Ausprägung einfach durch eine Fortschreibung neuer salonfähiger Formen und Medien fort. Zudem hat sich die Vorstellung eines ständig wachsenden Kulturinteresses als Illusion entpuppt – obwohl sich die Rahmenbedingungen deutlich verbessert haben. So gibt es zwar mehr Besuche, aber nicht mehr BesucherInnen. Zu den Vielnutzern gehören nach wie vor geschätzte 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung und die zentrale Referenzgruppe dürfte immer noch das Bildungsbürgertum sein.
Von den Popularitätswerten der 1980er Jahre ist die Kulturpolitik (zumindest die begriffliche!) heute weit entfernt. Sie lebt allerdings nach wie vor, wenn auch oft unter anderen Labeln (wie man auf Neudeutsch sagen würde), die zwar weniger verstaubt daher kommen mögen, sich gleichwohl um altbekannte Herausforderungen kümmern: Kulturelle Bildung, Inter- und Transkultur, Audience Development, Vermittlung oder eben Teilhabe. Und nach wie vor sucht sie nach Lösungen für die Frage, wie denn die Beziehung zwischen der Kultur und dem Menschen (oder umgekehrt) intensiviert werden könnte.
So ist kürzlich durch den Artikel „Stoppt die Banalisierung!“ von Wolfgang Ullrich in der Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 13 vom 26. März 2015, S. 55) Bewegung in eine Diskussion gekommen, die Anstoß nimmt an der Heilsidee einer alles und alle erreichenden Vermittlung, die – konsequent genug betrieben – sämtliche weiteren Probleme des Kulturbereichs gleich mit löst. Ullrich beklagt Vermittlung ohne Rücksicht auf die Kunst, die sich am Ende des von Kunstreligiösität und „political correctness“-Regeln (niemand darf ausgeschlossen werden!) geprägten Vermittlungsprozesses ihrer Komplexität beraubt sieht und nicht mehr die Kraft hat, zu verhindern, dass das sogenannte Publikum an derselben Stelle wieder abgesetzt wird, wo es eben noch abgeholt wurde. Am Ende reiben sich dann alle die Augen und fragen sich, was das soll.
Ullrich stößt damit in dasselbe Horn, wie es Holger Noltze mit seinem Buch „Die Leichtigkeitslüge“ (2010) tut. Noltze beklagt darin eine Verblödungsmechanik zwischen Dünkel und Marktfähigkeit, in dem alles leicht und benutzerfreundlich sein muss und in dem Komplexes und Schwieriges keine Daseinsberechtigung mehr hat. In Ermangelung eines gesellschaftlichen Konsenses über das zweckfrei Schöne geschieht eine Flucht in Nützlichkeitserwägungen, die aus der angeschlagenen Arbeitsfähigkeit hinausführen soll. Heraus kommt dann eine Begründungsprosa aus der Defensive (man denke nur an Förderanträge für Projekte der kulturellen Bildung), die längst kein Gegengewicht zu einer betriebswirtschaftlich-rationalen Weltsicht mehr darstellt, sondern meint, ihr Heil in der Nachahmung dessen finden zu müssen, zu dem sie eigentlich Distanz aufbauen sollte. Verantwortlich dafür – aber auch in der Lage, es zu ändern –, so Noltze, seien die drei gesellschaftlichen Bereiche Bildung, Medien und der Kulturbetrieb selbst.
In einem Satz zusammengefasst: Alle drei Systeme funktionieren mittlerweile nach ökonomisch-marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Bildung muss vor allem wirtschaftlich verwertbar sein (siehe dazu den Blogeintrag unten „Kaiser im Lehnstuhl“ von Michael Wimmer), was im Grundsatz niemand bestreitet, denn natürlich soll die Ausbildung auf den Beruf vorbereiten. Über das rechte Maß mag man allerdings diskutieren, denn gerade die Wirtschaft zehrt doch von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann (das hat sie mit der Kulturpolitik gemein): Kreativität, die Erfahrung von Komplexität und ein routinierter Umgang mit unbekanntem Terrain sind Voraussetzungen von Qualität und Wettbewerbsfähigkeit – und sprechen doch für die Bedeutung und Rolle der Künste. Der durch den Reformprozess von Bologna eingeführte Abschluss als „Bachelor“ steht vielleicht paradigmatisch für die Papier gewordene intellektuelle Kurzsichtigkeit, weil er erst durch eine Art des Denkens zustande gekommen ist, die am Ende zum Maßstab ihrer selbst erhoben wurde. Das wahre Ausmaß dieses Vorgehens, das zwar als Bildungspolitik getarnt, in Wahrheit aber nur eine finanzielle Sparmaßnahme war, zeigt sich erst mit Blick auf den vermeintlichen Adressaten. Scheinbar für die Wirtschaft gemacht (schneller und jünger!), erfreut sich der Bachelor in weiten Teilen großer Kritik: Einerseits wird so ein Abschluss der wachsenden Komplexität der Welt nicht mehr gerecht und andererseits zwingt er die Wirtschaft, MitarbeiterInnen auf eigene Kosten weiterzubilden.
Auch die Medien denken nur noch in Quotenlogik, was zumindest beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk diskutiert werden muss, ist er doch gebührenfinanziert und hat er doch auch einen Kulturauftrag. Um aber nicht noch mehr in die Defensive zu geraten, müssen ZuschauerInnen und ZuhörerInnen her. Heraus kommt ein Fernsehprogramm, das oft jedenfalls, ein quotengesteuertes Sedativ zwischen Alpenpanorama und Sozialpornographie ist und weite Teile der Bevölkerung in einen intellektuellen Tiefschlaf versetzt, mit dem sie der Unbill der Welt entgehen (sollen?) – honi soit qui mal y pense. Die öffentlich-rechtlichen Kultursender im Radio bieten ein unterschiedliches Bild, das von gutem Programm bis zum Ganzjahres-Silvesterkonzert reicht, aber vielleicht sind Radio und Fernsehen auch Dinge, die es so nur noch eine begrenzte Zeit gibt.
Der Kulturbetrieb als solcher kämpft schließlich mit allerlei GegnerInnen und vor allem mit sich selbst, was nur in Ausnahmefällen der Kunst nützt. So sind wir in einem System angekommen, dessen inhärente Förderlogik oft mit dem Verweis auf die eigene Kontinuität als hinreichendem Daseinsgrund auskommt und die KünstlerInnen und damit irgendwie auch die Kreativität zur Nebensache werden lassen.
Davon bleibt naturgemäß auch die Vermittlung einschließlich der mit ihr eingehenden Bemühungen nicht verschont. Die steht nämlich vor der schwierigen Aufgabe, nachweisen zu müssen, dass sich sehr wohl alle für Kunst und Kultur interessieren, wenn man es nur geschickt genug anstellt. Dagegen ist übrigens dem Grunde nach nichts zu sagen, denn all das ist tatsächlich für alle da, auch wenn man nicht der Illusion erliegen sollte, alle zu erreichen. Um den gefühlten und tatsächlichen Abstand zwischen Kunst bzw. Kultur und Mensch zu verringern, sucht die Vermittlung nach Wegen der Abkürzung, indem die Kunst aus dem Bilderrahmen, vom Sockel und aus der Partitur geholt und dem Menschen in die Hand gedrückt wird. Das ist kein schlechter Anfang, denn wer mittels Pappkarton und Steinen ein Schlagwerk nachbaut oder mit einem Pinsel Farbe auf eine Leinwand aufträgt, hat zumindest einen Anfang gemacht. Leider bleibt es dann oft dabei und so werden Steine im Pappkarton mit Musik verwechselt und am Schluss bleibt die bittere Erkenntnis, dass sich irgendwie auch keine echte Annäherung an Mahlers Zweite ergeben will, egal, wie lange man den Pappkarton schüttelt. Und zum Rockstar wird man damit auch nicht. Das Vermittlungsopfer hat berechtigterweise genug davon, fühlt sich denn die Distanz zur Kunst nun nur umso größer an. Die Kunst auf der anderen Seite kam gar nicht vor, geht aber als Beschädigter aus der Sache hervor und so werden beide Seiten ihr Geheimnis für sich behalten. Kleiner werden hier also nicht die Barrieren, sondern nur die Kunst selbst, weil vorgespiegelt wurde, der intellektuelle Eintrittspreis sei gar nicht so hoch und der Weg viel kürzer als gedacht. Der Versuch muss letztlich scheitern, da man auf der Klaviatur der Trivialität keine Sinfonie der Komplexität spielen kann. Noltze resümiert: Vermittlung vermittelt Vermittlung.
Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt wunderbare Vermittlungsprojekte, großartige VermittlerInnen und ansteckende Erfolgsgeschichten, in denen es gelingt, den Zauber der Kunst weiterzugeben. Dabei denke ich zuerst mal an den künstlerischen Schulunterricht, wo er denn noch stattfindet. Ein/e fähige/r Kunstpädagoge/in kann gar nicht überschätzt werden. Leider fällt so viel Musik- und Kunstunterricht aus, dass es auch einer Armada an außerschulischen Initiativen an kultureller Bildung gar nicht gelingen kann, dieses Defizit wettzumachen. Und selbst wenn er stattfindet, fehlt es allzu oft entweder an KunstpädagogInnen überhaupt, oder am fähig sein.
Es stellt sich die Frage, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Der Hinweis auf eine rationalisierte Welt ist nicht neu, schon im 19. Jahrhundert wurde darüber geklagt. Möglicherweise liefert aber heute das Phänomen der Digitalisierung neue Ansätze, die uns zu verstehen helfen.
Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Digitalisierung und Ökonomisierung in einem großen Naheverhältnis zueinander stehen. Beide befruchten sich gegenseitig. So hat die Digitalisierung die Spielregeln der Wirtschaft verändert, ihren Puls stark erhöht und sie zudem von analogen Grundvoraussetzungen im Raum-Zeit-Verhältnis teilweise befreit. Arbeiten kann man überall und zu jeder Zeit, Strom und Netz vorausgesetzt, der klassische Arbeitsplatz verliert an Wert und auch für die Kulturpolitik lange bestimmende Rahmenbedingungen wie eine Trennung von Arbeits- und Privatleben verschwinden. Vor allem die unvorstellbare Produktion von Informationen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verändern die Welt sehr stark. Auch wird der Bereich des Immateriellen immer mehr reduziert und materialisiert, indem Verhaltensweisen beispielsweise durch die Schaffung von „Apps“ kommerzialisiert werden. In gewisser Weise horizontalisiert die Digitalisierung eine einst eher vertikal geordnete Welt, sie schafft damit nebenbei viele gute Möglichkeiten auch für die Kunstvermittlung und die Kunst selbst. Sie kann, klug eingesetzt, Menschen mit der Welt verbinden, Informationen transparent verteilen und sogar Menschen in Notlagen retten. Sie kann auch das Gegenteil. Technik ist nicht gut oder schlecht. Das war sie auch vor der Digitalisierung nie: Auch mittels Schmiedehandwerk lassen sich Schwerter oder Pflugscharen herstellen. Und mit einem Messer kann ich Essen zubereiten oder töten. Es kommt immer auf den Menschen an. Damit wird klar: Die Digitalisierung ist keine technische, sondern eine politische Frage, die allerdings in weiten Teilen noch nicht als solche begriffen wird.
Kennzeichen der Digitalisierung sind einerseits Geschwindigkeit und andererseits Verbreitung. Die Digitalisierung erhöht das Tempo. Briefe brauchen Stunden und Tage, um bei den EmpfängerInnen anzukommen, eine Mail schafft das in Sekundenbruchteilen. Geschwindigkeit wird zum Wettbewerbsfaktor Nummer eins, nur wer schnell genug ist, spielt ganz vorne mit. Durch massenhafte Verbreitung und die enge Verzahnung mit der Wirtschaft wird klar: Digitalisierung ist nicht nur ein neues Medium, das kumulativ neben die analoge Welt tritt, sie verändert die Welt und der Gebrauch ihrer Instrumente damit auch uns und die Art, wie wir leben und kommunizieren, welche Informationen wir wann wahrnehmen und wie Entscheidungsprozesse verlaufen. Die Digitalisierung stellt grundlegende semiotische und semantische Grundbedingungen unseres Zusammenlebens in Frage: Galt ein Buch jahrhundertelang als Bildungskonserve mit objektiv-gültigem Inhalt, so haben sich heute die Manipulationsmöglichkeiten vervielfacht. Im Prinzip kann jeder Mensch heute mittels eines Computers gefälschte Videos hochladen und „seine“ Wahrheit so verbreiten, dass alle digital vernetzten Menschen erreicht werden können. Von dieser Möglichkeit profitieren nicht nur ExtremistInnen wie beispielsweise Mitglieder von IS oder Boko Haram, die die sozialen Medien gezielt nutzen.
Weiter ist zu konstatieren, dass die individuelle Abhängigkeit stark gestiegen ist: Die meisten von uns sind reine NutzerInnen und damit technische LaiInnen. Programmieren wird in Deutschland jedenfalls nicht in der Schule gelehrt. Zudem hat der Markt Monopolisten hervorgebracht: Apple, Microsoft, Facebook und Co. haben keine echten KonkurrentInnen (wie gesagt, Programmieren gehört nicht zum Lehrplan…) und der verzweifelte Versuch der Gesetzgeber, die digitalen Großkonzerne zur Einhaltung ihrer nationalen Rechtsordnungen zu bewegen, endet bei unendlich langen und unverständlichen user policy Erklärungen, die niemand liest und deren Anklicken zwar rechtlich gesehen „Zustimmung“ bedeutet, aber mangels Verstehen und mangels alternativer Produkte die Idee rechtlich wirksamen Einverständnisses ad absurdum führt. Das Recht höhlt sich damit selbst aus, denn neben der Möglichkeit von Alternativen setzen Freiheitsrechte mündige BürgerInnen voraus, was wiederum Bildung und Erkenntnis zur Bedingung hat.
Noch ein Punkt erscheint mir in dieser Debatte von Bedeutung: Der oben schon zitierte Wolfgang Ullrich hat sich kürzlich in einem Vortrag mit dem "Museum im Zeitalter des Ausstellens" beschäftigt. Er erläutert die Entwicklung des Museums von einer Institution des Sammelns und Sicherns in eine des Ausstellens, obwohl es dafür eine eigene Institution – nämlich das Ausstellungshaus – gab. Das Ausstellen wurde zur übermächtigen Aufgabe der Museen, es wurde im Laufe der Zeit für KünstlerInnen zur maßgeblichen Form der Präsentation und die Museen begannen sich zu verändern und orientierten sich immer mehr an den BesucherInnen. Unter der Prämisse, immer mehr BesucherInnen zu generieren, wurde aus der Kunstvermittlung eine Maßnahme zur Optimierung von Nachfrage – was ein marktwirtschaftliches Grundgebot ist. Ohne weiter in die Einzelheiten zu gehen, erkennt Ullrich in der Tatsache, dass Ausstellungen mittlerweile auch für PhilosophInnen und GeisteswissenschaftlerInnen zum Leitmedium wurden, eine Überwindung des Logozentrismus, ja einen Wechsel vom Sprechen zum Zeigen. Exponat statt Erklärung. Betrachtung statt Analyse. Die Digitalisierung wiederum begünstigt performative Auftritte, prägnante Gesten und markante Bilder. (By the way: Was wären die Konsequenzen für diesen Text, der mit Worten nach Erkenntnis ringt?)
Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang eine Beobachtung, über die ich schon lange rätsele: Das Museumsselfie – also ein mit dem Smartphone gemachtes Bild von sich (!) vor einem Kunstwerk. Ich und das Kunstwerk, ich im Kunstwerk, das Kunstwerk und ich oder so. Statt eingehender Betrachtung der Kunst wird ein Foto von sich mit der Kunst gemacht. Warum? Warum fotografiert man überhaupt ständig sich selbst? Vor der Kunst? Vor Bauwerken? Vor der Natur? Will man mangels Zeit die Szenerie zuhause in Ruhe ansehen? Oder wird damit eine Verbindung bildlich hergestellt, die vielleicht in ihrer natürlichen Ausprägung verloren gegangen ist? Die zwischen Mensch und Natur oder Kultur? Ist das Selfie eine bildhafte Selbstverortung bzw. -vergewisserung? Oder eine gegen die Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit gerichtete „Konservierung“ der Begegnung?
Zusammengefasst: Einerseits haben wir eine dynamisierte, pluralisierte und dadurch komplexer werdende Welt. Andererseits gewinnt das Zeigen und verliert das Sprechen an Wert. Und da wir die Digitalisierung weder technisch kontrollieren, noch geisteswissenschaftlich erfassen – was an dieser Stelle ein klares Plädoyer für eine stärkere geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema rechtfertigt –, hapert es gerade an Vielem und so wird ein Bedürfnis immer größer, das ganz natürlich immer dann auftritt, wenn Überforderung und Desorientierung im Spiel ist: Das Bedürfnis nach Vereinfachung und objektiver Wahrheit. Und so suchen Viele Erlösung in einfachen Wahrheiten, die wie Sirenengesang durch unsere Zeit hallen und suggerieren, dass alles gar nicht so kompliziert sei. Leider führt diese Suggestion geradewegs in die Klippen.
Am Ende bleibt nur die Einsicht, Komplexität zu akzeptieren und sich ihr lustvoll zu nähern. Komplexität als Chance, Neues zu entdecken und Lösungen zu schaffen, deren Erarbeitung lustvolle Gegenwart (Holger Noltze) verspricht, Freude am Aufstieg und Widerstand. Das bedeutet auch, sich vom Druck sofortiger Sinnproduktion zu entlasten und zu lernen, mit Unsicherheit umzugehen. Und es heißt auch, weniger Angst vor Neuem zu haben und mehr Wagnis zur Durchbrechung von Routine zu zeigen. Es heißt eigentlich nur: Freiheit als das begreifen, was sie ist. Freiheit braucht Mündigkeit. Und Mündigkeit braucht Erkenntnis. Das zu leisten ist Aufgabe des Bildungssystems. Und nur dann werden AbsolventInnen aus Schulen und Universitäten entlassen, die keine Erwartungen erfüllen wollen, sondern ihr Leben angstfrei und aktiv gestalten. In früheren Zeiten gab es die Wanderjahre, deren Ziel es war, Wandern zu lernen, Erfahrungen zu machen und Unsicherheiten auszuhalten. Auch von anderen zu lernen, war möglich. Wandern setzt Zeit voraus und wer wandert, verirrt sich manchmal und wandert nicht immer die kürzeste Strecke. Und so mancher Umweg hat schon reich beschenkt.
Diese Zeit braucht die Künste mehr denn je. Der Weg dahin steigt allerdings an, es gibt keine Abkürzung und Kondition braucht man auch. Enttäuschungen und Umwege wird es übrigens auch geben. Aber für den Fall, dass Sie einmal selbst auf dem Gipfel stehen wollen, sollten Sie vorher auf jeden Fall den Pappkarton mit den Steinen entsorgen, denn zusätzliches Gewicht belastet nur beim Aufstieg.
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