„Warum Musik traurig macht“ (frei nach George Steiner)
Nach einem langen Tag vollgepackt mit Gesprächen über den Nutzen kultureller Bildung in Sachsen fand ich mich gegen Abend in einem der typischen Flughafenräume wieder, die in ihrer ästhetisch aufdringlichen Bedeutungslosigkeit die BesucherInnen auf ihre Rolle als mehr oder weniger stumpfsinnig Wartende festlegen. Also packte ich mein iPhone aus und stieß auf der Suche nach Musik ausgerechnet auf die Wiedergabe der Passacaglia von Johann Sebastian Bach von Anton Heiller. Und es überkam mich beim Hören das, was nur Musik kann, wenn sie einen mitten ins Herz trifft und so zumindest für Momente die Fundamente der eigenen Existenz zu erschüttern vermag: das Empfinden, außerhalb von Zeit und Raum zu sein.
Jetzt habe ich als junger Musikstudent den Organisten Anton Heiller noch persönlich erlebt. In seinen letzten Jahren war er bereits stark von seiner Alkoholkrankheit gezeichnet. Unter uns Studierenden ging der Spruch um, man müsse ihn auf die Orgelbank setzen weil die eigene Standfestigkeit nicht mehr ausreichen würde. Aber einmal drauf sitzend erwies er sich immer wieder als ein Ausnahmemusiker, der mit seinem Instrument die ganze Intensität, die das Erleben von Musik mit sich bringen kann, zu vermitteln wusste.
Die Intensität der Beschäftigung mit der Kunst und die Intensität des Lebens
Es ist diese Möglichkeit das Bewusstsein überschreitender Existenzerfahrung, die der Literaturwissenschafter George Steiner in einem großen Interview anlässlich seines 85. Geburtstags in der Wochenzeitschrift Die Zeit „Pessimisten sind lächerlich“ spricht. Dort meinte er, es sei die intensive Beschäftigung mit Kunst, die die Voraussetzung für ein intensives Leben schaffe. Und er versprach damit kein sorgenfreieres, besseres oder gar erfolgreicheres Leben mit den Mitteln der Kunst; nein, sein Kunstverständnis richtete sich auf die Möglichkeit, sich zu konzentrieren, damit ein fortwährendes Abgelenktsein, damit verbundene Kurzatmigkeit und Kurzsichtigkeit inklusive oberflächlicher Gewissheiten außer Kraft zu setzen und stattdessen zu erfahren, was das Leben in all seiner unauslotbaren Abgründigkeit ausmacht; Leben pur also. Ich denke, Anton Heiller hat Musik so verstanden, mit ihr gelebt und sie auch so weitergegeben, ohne sich selbst dabei zu schonen. Weil er um sein Leben gespielt hat und wir das gespürt haben.
Der schmale Band „Warum Denken traurig macht“, den Georg Steiner 2008 herausgebracht hat, hat in mir Assoziationen in Bezug auf das eigene Musikerleben mitten in der Anonymität eines Flughafens ausgelöst. Sein Kreisen um den Begriff der Traurigkeit bezieht sich auf eine von ihm postulierte „Kultur der Freiheit“, die die Grundlage jeglichen Denkens bilden würde. Dieser Freiheit wohne freilich etwas Unheimliches inne, das den Denkenden immer wieder, manchmal völlig unerwartet, auf ein Nichts zurückwerfen würde, das nur schwer auszuhalten ist. Als eine Qualität menschlicher Existenz ist sie freilich angewiesen auf die Bereitschaft, dass wir sie uns nehmen, wissend um die Ungewissheit, wohin sie uns führen wird. Diese ist der wesentliche Grund warum nach Steiner – und jetzt zitiert er Schelling – „allem endlichen Leben eine Traurigkeit anklebe, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens“.
Über die tendenzielle Unkontrollierbarkeit von Musikerfahrung
Ein so verstandenes Denken hat große Ähnlichkeit mit Musikerfahrung, ja mit Kunsterfahrung generell. Immerhin erscheint ihre Wirkung ähnlich unkontrollierbar (warum z.B. ausgerechnet auf einem Flughafen?) und verweist auf somatische und psychosomatische Tiefen, die sich jeglicher Introspektion entziehen. Mit ihr kann tief vergrabener Schmerz ebenso wie tief vergrabene Lust angesprochen werden. Steiner verweist explizit auf Erfahrungen mit Musik und sieht im Zusammenhang mit seinem ureigenen Thema, dem Denken, starke Einflüsse vorsprachlicher Phänomene in Form von möglichen Schüben psychischer Energien, die jeglicher Artikulation vorausgehen würden, am Werk. Eine so verstandene Musikerfahrung setzt auf die Inanspruchnahme einer Freiheit, sich ihr auszusetzen, ihr gegenüber eine eigensinnige Haltung zu entwickeln, dem, was immer sie mit uns macht, standzuhalten und alles, wirklich alles, was in dem Zusammenhang mit uns passiert als Bereicherung erleben.
„Theater machen ist also eine Sendung, ein priesterliches Amt beinahe, ohne darum eine Offenbarungsreligion zu sein. Das Theater ist eine Religion des Menschlichen.“ (Mortier)
Einer der Musik- und Kunsterfahrung der letzten Jahre wesentlich beeinflusst hat (und dem die Gedanken George Steiners wohl vertraut waren) war der belgische Opern- und Theaterintendant Gerard Mortier. Auch von ihm ist kurz nach seinem Tod ein schmaler Band mit dem Titel „Dramaturgie einer Leidenschaft“ herausgekommen, worin er nochmals sein Verhältnis zur Kunst, vor allem aus der Sicht eines Machers rekapituliert. Offensiver als Steiner (dessen Ausführungen in „Warum Denken traurig macht“ auch als eine Absage gegen jeglichen Fundamentalismus zu lesen sind) setzt Mortier ungebrochen auf die Kraft der Kunst als herausragendes Medium gesellschaftskritischen Engagements.
Sein vielfältiger Umgang mit Kunst war geprägt vom Anspruch, Risiken einzugehen und dazu zu stehen. Darüber hinaus pochte er unerschütterlich auf Professionalität zu bestehen und den politischen Charakter des Theaters in der Gesellschaft zu verteidigen: „Theater machen bedeutet, die Routinen des Alltäglichen zu durchbrechen, die Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt in Frage zu stellen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren für Fragen des menschlichen Daseins, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist.“
Kulturelle Bildung und die Einübung einer eigensinnigen Haltung gegenüber der Welt
Diese Hinweise auf unterschiedliche Herangehensweisen an Kunsterfahrung führen mich zurück zum Stand der Diskussion, den ich zurzeit rund um das Thema kulturelle Bildung erlebe. Ja, auch hier geht es um die Hoffnung auf eine bessere Welt, der man mittels kultureller Bildung ein wenig näher zu kommen hofft. Gerne ausgeklammert aber bleiben im Umgang mit den Künsten im Rahmen von Lernprozessen gerne existentielle Fragen, etwa wenn es um die von Steiner angesprochene Grundierung des Lebens mit Traurigkeit geht. Nun ist Traurigkeit kein guter Lehrmeister, wenn es darum geht, sich einen Platz in der Konkurrenzgesellschaft zu erobern. Und doch ist es ein elementares Lebensgefühl, das viele junge Menschen umtreibt und mit dem sie weitgehend alleine zurechtkommen müssen.
In dem Zusammenhang fällt mir auf, dass alle Präsentationen kultureller Bildung (und ich habe viele gesehen) auf die Kraft der Begeisterung setzen. Die den Good Practice Beispielen unterlegten Bilder setzen allesamt auf glücklich lachende junge Menschen, deren leuchtende Augen den Beweis für das Gelingen kultureller Bildung erbringen. Dagegen ist mir noch nie eine Abbildung untergekommen, in dem Lernende eingeladen werden, sich mit künstlerischen Mitteln ihrer Traurigkeit zu stellen und nicht zu lernen, sie zu vermeiden und wegzulächeln sondern sich ihr zu stellen, sich ihr gegenüber zu verhalten, einfach, weil sie ein existentieller Bestandteil unser aller Leben ist.
Und jetzt kommt so ein Spielverderber wie George Steiner und mutet uns einen Umgang mit Kunst zu, die es uns ermöglicht, ein intensives Leben zu führen, freilich intensiv nach allen Richtungen und uns so einen Umgang mit den Schattenseiten erlaubt, den wir ansonsten nur allzu gerne vermeiden. Dieser Aspekt aber bleibt im herrschenden Diskurs zu kultureller Bildung, die vermeint Kunst für alle möglichen guten Eigenschaften instrumentalisieren zu können, weitgehend ausgeklammert, was bedeuten könnte, das wir junge Menschen um das Wichtigste, das Kunst mit uns vermag, zu berauben: die unauslotbare Erfahrung mit der eigenen Person.
Über die politische Verantwortung von KünstlerInnen – „No more ‚We do it for the kids‘“
Apropos Haltung: Die jüngsten politischen Auseinandersetzung haben auch vor Programmen kultureller Bildung nicht Halt gemacht. So ist der gefeierte Dirigent Gustavo Dudamel, der in Venezuela dabei war, das 39jährige Bestehen der weltweit beachteten Initiative El Sistema mit der Forderung heftig unter Druck seiner KollegInnen geraten, sich in der Auseinandersetzung zwischen der Regierung Maduro, die El Sistema unterstützt und der Opposition zu positionieren. So meinte die exilierte venezolanische Pianistin Gabriela Montero: „The leaders of the musicians of El Sistema have a moral duty to speak up and risk whatever is necessary in order to stand up against this dictatorship that we are now suppressed by.”
Wenn Dudamel die Aufrechterhaltung des Programms damit verteidigt, dass er sich für das Wohlergehen einer Vielzahl von Kindern aus verarmten Regionen verantwortlich fühlen würde, wird die Frage drängender, in welchem sozialen und politischen Kontext diese jungen Menschen Musik machen würden und was das insgesamt für Konsequenzen für die Entwicklung ihrer (politischen) Haltung hätte. Zuletzt hat sich selbst die New York Times des Themas in einem Beitrag „Political Cacophony Challenges Musicians“ angenommen und fragt, was denn die Rolle von KünstlerInnen in einer Gesellschaft sein solle, in der gewaltsame Konflikte ausgetragen würden. Zumindest für Gabriela Montero ist die Antwort – ganz im Sinne von Gerard Mortier – klar: „No more excuses. No more ‚Artists are above and beyond everything‘. No more ‚We do it for the kids‘.”
Und jetzt noch ein Hinweis auf die Lustigkeit, wenn schon nicht trauriger, so doch ernster Musik
In diesem Beitrag war viel von Traurigkeit als Konstitutiv der Erfahrung mit Kunst die Rede. Dass es bei der Vermittlung von ernster Musik auch lustig zugehen kann, bewies zuletzt das Hamburger Ensemble „Salon Salut!“. Ob das Quartett mit den vier tollen Musikerinnen einfach lustig sein wollte oder in der Rolle als musikalische EntertainerInnen verzweifelt versucht, angesichts einer Konkurrenzsituation, in der eine wachsende Anzahl exzellenter Kammermusikensembles um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlt, ein Alleinstellungsmerkmal zu entwickeln, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Die Pianistin musste jedenfalls nicht auf die Sitzbank gehoben werden. Sie legt sich stattdessen selbst und ganz freiwillig mit dem Rücken darauf und spielt u.a. Mozart quasi von hinten. Das ist wirklich lustig.
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