„Warum soll mich das jetzt noch groß interessieren“
Den Ausgangspunkt zu den Überlegungen des Symposiums „Kulturpolitik im Neoliberalismus“ bildete die Tatsache, dass im österreichischen Kontext kultur- und integrationspolitische Fragen nach wie vor weitgehend unvermittelt verhandelt werden. Das aber bedeutet, dass weite Teile des Kulturbetriebs bislang die dramatischen demographischen Veränderungen, die die europäischen Gesellschaften kennzeichnen, allenfalls an seinen Rändern antizipieren, während das Hauptgeschäft ungebrochen im Geist einer scheinbar homogenen kunstaffinen nationalen Gesellschaft erfolgt.
War der erste Veranstaltungstag vorwiegend den neoliberalen Rahmenbedingungen gewidmet, sollte sich der zweite Tag mit der Frage beschäftigen, ob Kulturpolitik angesichts wachsender Diversität seiner Bevölkerung einer Repolitisierung bedarf. Den Anfang machte das Impulsreferat des Kulturstadtrates von Palermo Andrea Cusumano, der von den schier unglaublichen Umständen in seiner Heimatstadt berichtete: In seiner Stadt würden Flüchtlinge in breiten Teilen der Bevölkerung willkommen geheißen, einen selbstverständlichen Teil der lokalen Bevölkerung darstellen und auch in die politischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden. In seinem Plädoyer für eine umfassende Willkommenskultur in ganz Europa machte er deutlich, dass die Stadt Palermo überhaupt erst durch die gestrandeten Menschen zu ihrer eigentlichen Identität gefunden hätte: „Wir haben viele Jahre über Multikulturalität gesprochen, ohne dass sie stattfand. Wir hatten nur Relikte – in der Sprache, in unserem Essen, aber nicht in unserer Gesellschaft. Jetzt leben wir wieder.“ Bei seiner anschaulichen Beschreibung des gedeihlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft verwies er auf die 2015 verabschiedete Charta von Palermo: „Von der Migration als Problem zur Freizügigkeit als unveräußerlichem Menschenrecht“.
Weite Teile der anschließenden Diskussion waren vom aktuellen Flüchtlingszuzug und den individuellen bzw. kollektiven Reaktionen geprägt. Dies ließ das ursprünglich beabsichtigte Thema der spezifischen kulturpolitischen Implikationen einer vielfältig diversen Gesellschaft zunehmend in den Hintergrund treten.
EDUCULT – Salon der Kulturen – Diversität in Kulturbetrieben zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Zumindest zu einem Teilbereich versammelte EDUCULT kurz darauf eine Reihe von VertreterInnen kultureller Einrichtungen in einem Salon der Kulturen im Wiener Volkskundemuseum, der eine Plattform bilden wollte, um sich zum Thema Diversität in Kulturbetrieben zwischen Anspruch und Wirklichkeit auszutauschen.
Die KollegInnen aus ganz verschiedenen Kultureinrichtungen waren sich darin einig, dass der aktuelle Flüchtlingszugzug nur bedingt als ein Migrationsphänomen zu verhandeln ist. Immerhin geht es dabei zuallererst um Schutzsuchende, die auf Grund unerträglicher Umstände in ihren Heimatländern von ihrem Asylrecht Gebrauch machen und so auch als Schutzsuchende – siehe Cusumano – behandelt werden wollen. Mit ihrem Bleiberecht werden sie in zunehmender Anzahl MitbürgerInnen, die sich durch unterschiedliche sprachliche, ethnische, kulturelle, allenfalls auch religiöse Charakteristika auszeichnen und als solche an einer wachsenden Diversität mitwirken, die die europäischen Gesellschaften heute kennzeichnen. Als nur ein Indiz hat die ehemalige AHS-Direktorin in einem Falter-Artikel herausgefunden, dass mittlerweile 90% aller in einer Volksschule in Wien Margarethen unterrichteten VolksschülerInnen einen Migrationshintergrund aufweisen und damit eine breite Mehrheit darstellen.
Transkulturalität – ein Begriff aus den frühen 1990er Jahren
Seither ist auch in der Theoriebildung viel passiert, beginnend bei den Anfängen eines Multikulturalitätdiskurses über Interkulturalität und Transkulturalität bis zum Begreifen, dass Diversität schlicht den Normalfall darstellt, den es gilt, als unumkehrbare Tatsache jeglicher perspektivischer kulturpolitischer Überlegungen zu akzeptieren. Ich war erstaunt, in einer Veranstaltung mit dem deutschen Philosophen Wolfgang Welsch daran erinnert zu werden, wie lange diesbezügliche Diskurse brauchen, sich durchzusetzen, wenn seine theoretischen Schriften zu Transkulturalität bereits aus den frühen 1990er Jahren stammen.
In seinen damaligen Beiträgen machte Welsch anhand Johann Gottfried Herders Kugelmodell vermeintlich homogener Kulturen das ganze Dilemma deutlich, das vor allem den öffentlich geförderten Kulturbetrieb bis heute auszeichnet. Immerhin diente dieses Modell in einer kurzen historischen Phase des 19. Jahrhunderts als ideelle Begründung der Nationenbildung, die auf einem, im staatlichen Kulturbetrieb repräsentierten gemeinsamen kulturellen Kanon beruhen sollte. Für seine adäquate Trägerschaft sollte eine ebenso homogene bildungsbürgerliche Schicht als kenntnisreiche NutzerInnenschaft dienen, um – mit der Selbstzuschreibung, das ideelle Zentrum der Nation zu bilden – an einem kulturellen Referenzmedium mitzuwirken, an dem sich alle anderen zu orientieren hätten.
An diese Art der kulturellen Homogenität glaubt heute – jedenfalls innerhalb des Kulturbetriebes – kaum jemand mehr; entsprechend prekär geworden sind diesbezügliche Begründungszusammenhänge, die die Fortsetzung staatlicher Priorisierung einer darauf basierenden kulturellen Infrastruktur legitimieren sollen. Es sind heute vor allem rechtspopulistische Kräfte, die noch einmal versuchen, mit der Behauptung vermeintlich kulturell homogener Gesellschaften, den Kampf unterschiedlich benachteiligter sozialer Gruppen untereinander anzuheizen und daraus politisches Kapital zu schlagen (in diesem Zusammenhang erwies es sich als ein besonderer Glücksfall für die FPÖ, dass die langjährige Repräsentantin eines überkommenen bildungspolitischen Milieus in Gestalt der Bezirksvorsteherin des 1. Wiener Gemeindebezirks, Ursula Stenzel, bereit war, von den Konservativen zu den Rechtsnationalen zu wechseln, um ihnen einen neuen Anstrich in Sachen kultureller Dominanz zu verpassen).
Die drei großen Wellen vor den Toren des Kulturbetriebs: Klasse, Geschlecht, Ethnizität
Regina Wonisch etwa weist in ihrem Band „Museum und Migration“ nach, das sich das gesamte 20. Jahrhundert als ein Anrennen verschiedener sozialer Gruppen, unterteilt in Class, Gender oder Ethnicity, kennzeichnen lässt , deren VertreterInnen immer wieder neu den Anspruch erhoben haben, endlich auch in diesen hehren Tempeln mit all ihren unterschiedlichen Arbeits- und Lebensformen gleichermaßen vorzukommen.
Gerade in Bezug auf ethnische Aspekte zeichnen sich vordergründig drei kulturpolitische bzw. institutionenspezifische Strategien ab. Die erste besteht schlicht darin, überhaupt nicht zu reagieren und einfach im alten Modus weiter zu machen, als hätte sich das gesellschaftliche Umfeld nicht verändert. Die zweite Strategie läuft darauf hinaus, speziell für MigrantInnen zusätzliche Angebote zu entwickeln – auch – um eine Ausrede dafür zu haben, dass im großen Rest des Kulturbetriebes alles beim Alten bleibt und ja ohnehin etwas passieren würde. Wir konnten diese Strategie vor einigen Jahren eindrucksvoll am Beispiel Wien erleben, als sich die damalige Kulturstadträtin Ursula Pasterk dazu bereit war, auf Drängen unzufriedener Theaterschaffender innerhalb weniger Jahre das Budget für die freie Szene zu verzehnfachen, während weite Teile des übrigen Theaterbetriebs davon unberührt geblieben sind. Die Organisation von durchaus erfolgreichen Initiativen wie Wien Woche, Diversity Lab, Kültür Gemma oder Brunnenpassage verweisen auf eine ganz ähnliche Taktik.
Über gesamthafte Veränderungen und die vielen Argumente, warum es nicht geht
Die dritte Strategie aber setzt darauf, den Kulturbetrieb eines veränderten Umfeldes als Ganzes zu verändern. Sie ist dabei mit einer Reihe von Widerständen konfrontiert, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können. Der erste besteht darin, dass ungebrochen eine produktions- und damit angebotsorientierte Kulturpolitik die Aufrechterhaltung der kulturellen Infrastruktur bestimmt. Die Gründe liegen u.a. in einer sehr späten Verankerung der Freiheit der Kunst, die zumindest formal eine lange Periode von Versuchen externer Einflussnahme beendete. Entsprechend groß ist bis heute das fast intuitive Abwehrverhalten, wenn es darum geht, NutzerInnen in kulturpolitische Überlegungen einzubeziehen, ohne sich dem Vorwurf der Kompromittierung künstlerischen Eigensinns auszusetzen. Stattdessen wird der Kulturbetrieb lieber als letzter verbliebener Ort der Freiheit und der Kreativität zelebriert, der den NutzerInnen eine Holschuld zuweist, die, wenn sie nicht vehement an die Tür des Kulturbetriebs klopfen, selbst schauen sollen, wo sie bleiben.
Als ein anderes wichtiges Hindernis hat sich in diversen Studien (z.B. die Evaluierung der Veranstaltungsreihe Pimp My Integration gezeigt, dass VertreterInnen des Kulturbetriebs entlang ihrer oft nur äußerlichen Unterschiedlichkeit Diskriminierungen ausgesetzt sind bzw. ihnen entlang ihrer ihnen zugeschriebenen Charakteristika stereotypische Rollen zugeschrieben werden. Diese Art von Stigmatisierung findet sich aber auch in der Bewertung der potentiellen NutzerInnen, die selbst führende VertreterInnen des Kulturbetriebes schon mal in pejorativer Weise von dem Türken im Unterschied zu den Asiaten sprechen lässt (siehe dazu meinen Blogeintrag "Sie sähen Angst vor Flüchtlingen und ernten die Dritte Republik".
Es ist der soziale Kontext, der zählt
Als wesentliches Problem hat sich auch der Umstand erwiesen, dass MigrantInnen nicht gleich MigrantInnen sind. Ausgeblendet bleiben dabei gerne die sozialen Hintergründe, die oftmals wesentlich entscheidender für die Nutzung (oder Nichtnutzung) kultureller Angebote sind als der spezifisch ethnische Hintergrund.
Naturgemäß erscheinen Kultureinrichtungen auch entlang ihrer Spartenzugehörigkeit sehr unterschiedlich vorbereitet auf das Thema Diversität. Immerhin haben Musikeinrichtungen in der Regel weniger Probleme damit, billigeren MusikerInnen aus den östlichen Nachbarländern gegenüber teureren heimischen Kräften den Vorzug zu geben. Das gilt auch für alle Arten exotischer kultureller Manifestationen, solange sie der Aufmerksamkeitssteigerung in einem umkämpften Markt dienen. Bleibt der Aspekt der nahezu Allverfügbarkeit einer neuen Generation von kulturellen Ausdrucksformen im virtuellen Raum, der ortsgebundene Kultureinrichtungen bei der Inanspruchnahme von welchen sozialen Gruppe auch immer zunehmend das Nachsehen haben lässt.
Brokering Migrants‘ Cultural Participation – Einladung zur Nutzung eines Benchmarking Tools
Um zumindest einige dieser Widerstände exemplarisch zu bearbeiten, hat sich EDUCULT entschlossen, an einem europäischen Forschungsprogramm mit dem Titel „Brokering Migrants‘ Cultural Participation“ teilzunehmen. Zusammen mit einer Reihe von PartnerInnen aus Spanien, Italien, Belgien und Schweden sind wir vor allem der Frage nachgegangen, was Kultureinrichtungen tun können, um sich in diversen Gesellschaften neu zu positionieren. Neben der Organisation einer Reihe von Lernpartnerschaften ist vor allem ein Benchmarking Tool herausgekommen, anhand dessen sich Kultureinrichtungen selbst besser einschätzen lernen können, wenn es um ihr Standing in einer auf (kulturelle) Vielfalt gerichteten Gesellschaft geht. EDUCULT bietet zur Benutzung des Tools gerne entsprechende Beratung an.
Es ist schwer, aus unterschiedlicher Ländersicht ein für alle Beteiligten gültiges Ergebnis dieses europäischen Kooperationsprojektes zu präsentieren. Gemeinsam war jedenfalls allen Kulturinstitutionen das Wissen, dass sie sich alle in einer dramatischen Übergangsphase befinden und sich speziell in ihrer Gesamthaftigkeit (Strategie, Programm, Personalauswahl, Kommunikation, Kooperationspartner oder Zulieferer) neu aufstellen werden müssen. Die meisten von ihnen zeigten sich konfrontiert mit neuen, in der Regel pauschal vorgetragenen kulturpolitischen Ansprüchen, wenn es darum geht, auf neue, bislang vernachlässigte Zielgruppen aktiv zuzugehen. Diese Zurufe von außen vermehren ihre Verunsicherung angesichts eines beträchtlichen Mangels an hinreichenden Qualifikationen und Instrumenten, wie diese Ansprüche in die Tat umgesetzt werden können. Dies gilt umso mehr für die Zunahme an sozialer Ungleichheit ihrer potentiellen NutzerInnen, die sich u.a. in ungleichen Bildungsvoraussetzungen der Betroffenen niederschlägt. Dazu kommt, dass selbst die höheren Schulen die SchülerInnen nicht mehr auf Karrieren eines wissenden Publikums vorbereiten, ein Mangel, der durch häppchenförmige Bildungs- und Vermittlungsbemühungen des Kulturbetriebs nur sehr ungenügend kompensiert werden könne.
Diversity Management nicht nur als Handlungsanweisung für die VermittlerInnen, sondern als Querschnittsmaterie des gesamten Kulturbetriebs
Bei den Versuchen, ein den gesamten Kulturbetrieb als eine Querschnittsmaterie umfassendes Diversity Management zu implementieren, waren sich die TeilnehmerInnen des Salons der Kulturen über die wichtige Rolle der jeweiligen Leitung einig. Zur Zeit würde immer wieder versucht, den Anspruch der Diversität ausschließlich von den Bildungs- und Vermittlungsabteilungen umsetzen zu lassen und dies führe auch innerbetrieblich zu einer wachsenden Ungleichheit, die die VermittlerInnen in ihrer weitgehenden Isolation zunehmend überfordern würde. Große Bedeutung wurde auch der Organisation neuer Settings (z.B. Outreach-Projekte, partizipative Projekte) zugemessen, um so bislang unberücksichtigte Teile der Bevölkerung dort, wo sie zuhause sind, besser erreichen zu können. Und auch die Zusammenarbeit mit externen Partnern, die bereits einen guten und vertrauensvollen Zugang zur jeweiligen Zielgruppe gefunden hätten, wurde als stärkend eingeschätzt. Nicht unkritisch beobachtet blieb auch in diesem Gespräch der aktuelle Diskurs um die Flüchtlingsfrage, dessen Konzentration dazu führen würde, mit nachhaltig negativen Folgen den Blick vom aktuellen Stand generell sozialer und auch kultureller Benachteiligung abzuwenden.
Persönlich war ich beeindruckt von der erreichten Vielfalt im Zugang zum Thema Diversität. Während einige der vertretenden Einrichtungen bereits mit Haut und Haar auf den neuen Zug aufgesprungen sind, tun sich andere noch ersichtlich schwer, wenn es darum geht, liebgewordene Gewohnheiten hinter sich zu lassen. Nicht nur ihnen sei die weihnachtliche Lektüre des gerade herausgekommenen Bandes von Susanne Keuchel und Viola Kelb „Diversität in der Kulturellen Bildung“ empfohlen, in dem sich auch ein einleitender Beitrag von mir mit dem Titel „Kultureller Bildung in Zeiten wachsender Unterschiede“ findet.
Allen meinen Blog-LeserInnen wünsche ich Frohe Weihnachtsfeiertage! Ich freue mich, mit Ihnen in einem hoffentlich guten Neuen Jahr weiter sprechen zu können.
Bildnachweis: Szene aus "Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene" des Künstlerkollektivs "Die Schweigende Mehrheit", Foto: Barbara Elisa SemmlerLETZTE BEITRÄGE
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