Was am Ende zählt ist das Fragen
Vor vierzehn Tagen habe ich mich in diesem Blog mit dem Gesetz gegen Schmutz und Schund aus den 1950er Jahren beschäftigt. Nach den Erfahrungen mit dem Nazi-Regime schien es mir unvorstellbar, dass man sich in den Jahren des demokratischen Wiederaufbaus noch einmal auf die kulturpolitische Maßnahme der Bücherverbrennung als Instrument der sittlichen Erziehung bedienen konnte.
Am Grazer Gymnasium Orthweingasse, die sich mit künstlerischen Schwerpunkten profiliert, fand zuletzt ein Projekt zum Thema „Wir holen uns die Bücher zurück“ statt. Dazu recherchierten SchülerInnen in Archiven und Bibliotheken der Stadt, welche Bücher in der Zeit des austrofaschistischen Ständestaates und des NS-Regimes verboten und vernichtet wurden. Und zumindest einigen wurde bewusst, dass „Bücher eine mächtige Rolle in der Geschichte spielen“ können.
Ausgeklammert bei diesem Projekt – soweit ich es jedenfalls nachvollziehen kann – blieb der Umstand, dass die Bemühungen einer zum Teil gewaltsamen Trennung in sogenannte gute und schlechte Literatur wesentlich weiter reichen und diesbezügliche Unterscheidungsversuche – pluralistische Gesellschaft hin oder her – die Unterrichtsinhalte (nicht nur in Deutsch) bis heute wesentlich bestimmen. Nur zu gut erinnere ich mich selbst noch an mein klammheimliches Lesen von Comics oder eines Krimis unter der Schulbank, die im Fall des Erwischtwerdens sofort konfisziert wurden.
In dem Zusammenhang würde ich mir wünschen, das Projekt in der Orthweingasse auszuweiten, um den Wunsch nach Diskriminierung und Ausmerzung bestimmter Kunstformen nicht ausschließlich als ein historisches Phänomen zu untersuchen.
Immerhin scheint die spezifische Angst bis heute handlungsleitend, die SchulpolitikerInnen dazu bringt, Jugendliche ungeachtet ihrer konkreten Lebensumstände von bestimmten Ausschnitten der Realität – vor allem in ihrer künstlerischen Ausgestaltung – abzuschirmen, weil sie ihnen vorgeblich „nicht zuzumuten“ seien. Interessant wäre also, mehr zu den Anwendungen von impliziten bzw. expliziten Kriterien, die sie bei ihrer Wahl, was zumutbar ist und was nicht, zu erfahren.
Die Geschichte der Zensur ist nicht zu Ende
Die Grazer SchülerInnen sind nach ihren Recherchen zum erfreulichen Schluss gekommen, dass alle jene Inhalte, die damals als eine Form der Jugendgefährdung angesehen worden wären, heutzutage als normal gelten. „Heute“, so einer der beteiligten Schüler, „kannst Du in ein Buch fast alles hineinschreiben, da wird kaum was verboten, es ist wirklich arg zu sehen, was man damals verboten hat“.
Dem ließe sich entgegen halten, dass die Zensurversuche insbesondere in und rund um Schule nicht zum Erliegen gekommen sind. Ich erinnere mich noch gut an die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Reihe „Souffleurkasten“, die in den späten 1970er Jahren Texte für den Schulgebrauch prominenter Autoren wie Peter Turrini, Peter Henisch oder Wilhelm Henisch versammelte, um SchülerInnen nicht nur mit den Klassikern, sondern auch mit österreichischer Gegenwartsliteratur zu konfrontieren. Ausgelöst vom damaligen Wiener Schulsprecher der ÖVP machte sich ein Sturm der Entrüstung breit, weil die „Sprache derb sei und auch von Sexualität und Drogenkonsum zu unverblümt gesprochen werde“.
Der Unterschied zu den 1950er Jahren bestand darin, dass die inkriminierten Autoren sich diese Form der Diskriminierung nicht mehr gefallen ließen, sondern sich zur Wehr setzten. Und sie bekamen vor Gericht zumindest teilweise Recht. Turrini und Pevny wurden vom Pornografievorwurf freigesprochen. Beim Träger des Würdigungspreises der Industriellenvereinigung Peter Henisch hingegen wurde – vielleicht aufgrund seines „piratenmäßigen Aussehens“ (so die Zeitschrift „Neues FORVM“) – der Abusus von Kraftausdrücken in seiner Cover-Version von Nestroys „Lumpazivagabundus“ gerichtlich bestätigt.
Der Skandal um „Nichts“
Und bis heute ist das Gespenst der Zensur nicht völlig ausgetrieben. Bei meinen Recherchen stieß ich u. a. auf den Bestseller „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ von Jane Teller. Darin schildert die dänische Autorin die Geschichte eines Jungen namens Pierre Anthon, der seinen Klassenkameraden von einem Pflaumenbaum aus die Sinnlosigkeit des Lebens verkündet. Diese fühlen sich dadurch provoziert, ihm zu beweisen, dass es doch Dinge von Bedeutung gebe, was letztlich zu gewalttätigen Handlungen unter den Kindern führt.
Die öffentliche Diskussion wurde vor allem rund um die Frage geführt, ob ein solcher „nihilistischer“ Text den jungen LeserInnen zuzumuten wäre und führte in Dänemark, wo das Buch bereits in den frühen 2000er Jahren veröffentlicht wurde, zu einem zeitweisen Verbot. Gleichzeitig wurde Teller mit vielfachen Preisen ausgezeichnet. Recht bekam sie vor allem auf dem Buchmarkt, wenn allein in den deutschsprachigen Ländern mehrere hunderttausend Exemplare verkauft wurden.
Nach dem Besuch mehrerer Fachveranstaltungen zu „Kulturvermittlung“ beschäftigte mich diese Woche noch eine zweite Frage zum Verhältnis verschiedener Ansprüche von Wissenschaftlichkeit. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war das Symposium „Gemeinsam für Musik“ im Wiener Rathaus Ende April, das den Anspruch der Wiener Stadtverwaltung, künftig einen „Wiener Weg der musikalischen Bildung“ zu beschreiten, verdeutlichen wollte. Die Veranstaltung wurde inhaltlich unterfüttert von den Ergebnissen einer Fragebogenerhebung durch die Forschungsgesellschaft ICG. Diese ergaben, vereinfacht gesagt, dass mehr junge Menschen als erwartet musikalische Bildung in Anspruch nehmen, auch wenn Wien gerne als gesamtösterreichisches Schlusslicht des öffentlichen Musikschulangebotes angesehen wird.
Musik verändert das Gehirn – so what?
Die keynote zur Veranstaltung steuerte der Schweizer Hirn- und Begabungsforscher Willi Stadelmann zum Thema „Musik bewegt das Gehirn – Musik und Instrumentalspiel aus der Sicht der Lernforschung“ bei (die wesentlichen Inhalte finden sich in einem Beitrag aus 2005 „Musik und Gehirn“). Dabei waren weniger die präsentierten Ergebnisse beeindruckend, als die große Dankbarkeit des Publikums, dass sich hier ein „echter Wissenschafter“ (dessen Quintessenz sich darauf reduzieren lässt, dass die Beschäftigung mit Musik nachvollziehbare Veränderungen in spezifischen Gehirnregionen bewirkt) auf ihre Seite schlägt und ihre Bemühungen um mehr Musik in der Bildung unterstützt.
Ganz ähnliches konnte ich beim Symposium „Kulturvermittlung“ erleben, das vergangene Woche in St. Pölten stattgefunden hat. In diesem Fall war es kein Hirnforscher sondern ein Genetiker in der Person von Markus Hengstschläger mit Hang zu Bildungsfragen („Die Durchschnittsfalle“), der den teilnehmenden VermittlerInnen ihre Wichtigkeit zu versichern vermochte.
Beide Ereignisse sind für sich genommen durchaus erfreulich. Bedenklich wird die Begeisterung der TeilnehmerInnen, (wenn schon nicht von den verantwortlichen PolitikerInnen so doch) von Vertretern der Naturwissenschaften ernst genommen werden, erst im Vergleich mit den fachlichen Beiträgen aus den eigenen Reihen. Ein solcher macht offensichtlich, wie eine unkritische Affirmierung (natur)wissenschaftlicher Aussagen Bemühungen um eine eigene, der Sache der kulturellen Bildung und Vermittlung adäquate sozial- oder kulturwissenschaftliche bzw. pädagogische Herangehensweise abzuwerten droht.
Bedeutet die Macht der Wissenschaften das Ende der Humanität?
Der englisch-französische Philosoph mit österreichischen Wurzeln hat in einem, jüngst in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ erschienenen Portrait mit dem Titel „L’œuvre n’a besoin de personne“ der Begründung neuer Formen der Vermittlung einen Dämpfer aufgesetzt. Zugleich hat er von seiner wachsenden Sorge gesprochen, die sogenannten exakten Wissenschaften könnten die Definitionsmacht über unser Sein übernehmen. Ganz offensichtlich ist die englische und auch die französische Sprache sensibler gegenüber der Unterscheidung zwischen „sciences“ und „humanities“, die im deutschsprachigen Kontext gerne unterbelichtet bleibt.
Für Steiner würden sich die „sciences“ zunehmend über die „humanitities“ erheben und damit humanistische Errungenschaften, ja den Humanismus als solches für obsolet erklären („La science va emporter sur l’humanité, voire sur l’humanisme“). Bei der Bewertung der Hauptgefahr dieser Entwicklung bezieht er sich auf Heidegger, der gemeint habe, die exakten Wissenschaften „sont extrêmement triviales. Elles n’ont que de réponses“.
Georg Steiner hat mir damit zumindest einen Grund für mein Unwohlsein geliefert, das ich angesichts des großen Beifalls gespürt habe, mit denen die PädagogInnen und VermittlerInnen die VertreterInnen der exakten WissenschafterInnen beschenkt haben. Es ging eine spezifische Form der Bestätigung, die die Hoffnung schürt, oft unangenehmes Fragen vermeiden zu können.
Was aber, wenn die Fähigkeit einer humanistischen Pädagogik, immer neue Fragen aufzuwerfen, den Kern unseres Geschäfts ausmacht? Die Fragen, die die SchülerInnen der Orthweingasse an einen Aspekt der Kulturgeschichte gerichtet haben, könnte uns die erste Euphorie nochmals überdenken lassen.
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