
Was den einen genommen wird, wird den anderen gegeben
So lautete die zentrale Begründung für die Organisation des zweiten „World Summit on Arts Education – Polylogue II“, der vorige Woche in Wildbad Kreuth/Deutschland stattgefunden hat. VertreterInnen aus mehr als 40 Ländern versammelten sich in dieser Naturidylle in den Bayrischen Bergen, um sich rund um Fragen von „evaluation“, „mapping“ und „competences“ auszutauschen. Viele der Beiträge waren einmal mehr vom Wunsch gekennzeichnet, der Beschäftigung mit Kunst und Kultur einen nachweisbaren Mehrwert für den Erwerb von Fähigkeiten abzuringen, die gesellschaftlich mehr nachgefragt werden als vom eigenen Metier. Und so durfte auch das seit Jahren strapazierte Argument der Stimulierung von Kreativität und Innovation als Mittel der Überwindung der aktuellen wirtschaftlichen Krisenerscheinungen nicht fehlen.
Die gesellschaftliche Krise als sorgfältig gehegtes Tabu
Die Krise, ihre Ursachen und ihre Auswirkungen auf potentielle Lerner blieben hingegen weitgehend ausgespart. Wir alle schienen uns damit abzufinden, dass die sich immer weiter verschlechternden Lebensrealitäten einer wachsenden Zahl der apostrophierten „young people“ keinen Eingang in unsere Überlegungen fanden. Kein Wort zur massenhaften Jugendarbeitslosigkeit vor allem im Süden Europas und damit verbundener perspektivloser Verelendung (und zu erwartender politischer Radikalisierung). Kein Wort zur Vernichtung der vielfältigen Potentiale einer ganzen Generation, die jeder Form von Effizienz Hohn spricht. Kein Wort zum Scheitern politischer Konzepte, einer aus den Rudern laufenden kapitalistischen Dynamik Einhalt zu gebieten. Und was das für die künftige Ausrichtung von „arts education“ bedeutet. Kein Wunder, dass da normative Aufforderungen, doch kreativ zu sein, zu leeren Worthülsen verkamen.
Auf der Suche nach der Weigerung, Konzepte von „arts education“ in Bezug zu den krisenhaften Lebensumständen zu entwickeln, habe ich mich auf die Suche nach historischen Wurzeln gemacht und bin bei Mary Ann Stankiewicz, Professorin für Arts Education in Pennsylvania fündig geworden.
In ihrem Beitrag „Capitalizing art education: Mapping international histories” von 2007 kommt sie zu dem Schluss, “British, European and North American modes of art education developed with the rise of capitalism and emergence of a middle class”.
Sie sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Aufkommen eines Anspruchs zugunsten „arts education“ als essentiellen Teil umfassender Bildung und der Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen Logik, die von einer dominanten Mittelschicht getragen werden sollte. Zu ihrer Legitimierung sei diese auf die Schaffung von Finanzkapital ebenso angewiesen gewesen wie von „symbolischem Kapital“ (Pierre Bourdieu), deren Grundlagen mit Hilfe von Programmen von „arts and cultural education“ gelegt werden sollten, „and it made capitalism successful in a sustainable way to be organized in the frame of nations within which the middle class could find its cultural identification“.
Spätestens an dieser Stelle ließe sich einwenden, die Mittelschicht habe im Zuge der gesellschaftlichen Aufsplitterung längst ihre hegemoniale Stellung bei der Schaffung von kulturellem Kapital verloren; in einer pluralistischen Gesellschaft richte sich das kulturelle Angebot zumindest formal an alle, die bereit sind – etwa im Rahmen von Vermittlungsprogrammen – davon Gebrauch zu machen.
Das drohende Ende der Mittelschichten und die erwartbaren Konsequenzen
Nun weisen die wenigen verfügbaren Daten daraufhin, dass es nach wie vor die hoch und höchst gebildeten Schichten (und damit Mitglieder einer, zugegeben zunehmend schwer zu fassenden Mittelschicht) sind, die vorrangig vom Angebot öffentlicher Kunst- und Kultureinrichtungen Gebrauch machen (siehe dazu etwa die Ergebnisse des 2. Jugendkulturbarometer des Zentrums für Kulturforschung Bonn).
Und auch die jüngste Intervention des russischen Künstlers Petro Wodkins, der mit der Falschinformation, das Wiener Museum für Moderne Kunst „mumok“ sei temporär geschlossen worden, weil eine Umfrage einen „inakzeptabel hohen Anteil von Besuchern aus sozioökonomisch wohlhabenden Gruppen“ ergeben hätte, bliebe unverständlich, wäre der Klassencharakter im Kulturbereich bereits völlig aufgehoben.
Apropos Klasse: In Frankreich hat die renommierte Jean Jaurès Foundation zuletzt eine Studie zum Thema „Le descendeur social“ veröffentlicht. Auch die dort vorgetragenen Ergebnisse zum „sozialen Abwärtslift“ lassen nicht den Schluss zu, der Mittelstand (classes moyennes) sei dabei, sich in unterschiedliche, gleichberechtigt neben einander existierende Milieus aufzulösen. Stattdessen erzählen die AutorInnen von einer wachsenden Angst der Mitglieder dieser Gesellschaftsschicht, ihren Status als Träger gesellschaftlicher Entwicklung nicht mehr halten zu können und Teil einer der wachsenden benachteiligten Gruppen (catégories défavorisées) zu werden. Nach den Autoren sei der Anteil an sozialen Absteigern zwischen 2010 und 2013 von 57% auf 67% gestiegen. Insgesamt glaube mittlerweile die Mehrheit der Franzosen, heute schlechter zu leben als die Generation ihrer Eltern, darüber hinaus gehen sie davon aus, dass sie in zehn Jahren schlechter leben würden als heute und auch ihre Kinder würden schlechter leben als sie selbst (siehe Artikel in der Zeitung Le Monde).
Es ist zu vermuten, dass dieser Befund in anderen europäischen Ländern nicht völlig anders ausfallen wird. Was hier zu Tage tritt ist eine wachsende Verunsicherung der europäischen Gesellschaften gegenüber einer, politisch nicht mehr beherrschbaren kapitalistischen Dynamik, die ihre ursprünglichen Träger unter sich zu begraben droht. Übrig bleibt eine kleine Minderheit von Krisengewinnern, die sich nur sehr bedingt dafür eignet, die Fahne von „arts education“ hochzuhalten. In dem Zusammenhang hat der deutsche Soziologe Michael Hartmann bereits 2010 einen Paradigmenwechsel innerhalb der Wirtschaftseliten festgemacht. Noch „vor zehn, zwanzig Jahren war nach meinen Beobachtungen Hochkultur als Distinktions- und Unterscheidungsmerkmal bei der Wirtschaftselite hoch angesiedelt. Für die Wirtschaftsmanager der Jahrgänge 1930-1950, die jetzt langsam in Rente gehen, war Kultur wesentlich. In ihren Porträts betonen sie, dass sie zur Entspannung Geige oder Klavier spielen, dass sie malen oder Kunst sammeln. Diese klassische Hochkultur hat in der Generation, die heute zwischen 45 und 55 ist, an Bedeutung verloren“.
Angesichts dieser fundamentalen Erschütterungen, deren Auswirkungen mich vor allem auf Grund der suggerierten Alternativlosigkeit zunehmend an den Niedergang der kommunistischen Regime erinnern, besteht wenig Hoffnung, den Mittelstand als bewährten Träger von „arts education“ weiterhin an der Stange halten zu können. Im Hinblick auf die zunehmende Pervertierung der marktwirtschaftlichen Logik haben deren Mitglieder schlicht andere Sorgen, auch wenn die in der Regel selbst sehr mittelständisch geprägten TeilnehmerInnen am World Summit zur eigenen Legitimation ungebrochen eine positive Einflußnahme kultureller Bildungsmaßnahmen auf die gesellschaftliche Gesamtverfassung suggerieren wollen.
Nach meinem Dafürhalten steht und fällt die Glaubwürdigkeit von künftigen Konzepten von „arts education“ mit der Fähigkeit, die Konsequenzen aus Stankiewicz‘ Analyse zu ziehen und so die konkreten Lebensumstände der massenhaften Krisenverlierer und ihre Ursachen in den Blick zu nehmen, zu verstehen, zu interpretieren und wohl auch verändern zu wollen. Erst eine darauf beruhende strategische Weiterentwicklung würde die Behauptung mit Leben erfüllen, der gesellschaftliche Zusammenhalt ließe sich mittels „arts education“ befördern.
„Arts education“ zwischen kritischer Analyse und Affirmation wachsender Ungleichheit
So lange der fachliche Diskurs rund um „arts education“ nicht verbunden ist mit der Entwicklung nachvollziehbarer Perspektiven, wie die europäische Gesellschaft (kultur-)politisch gestaltet sein kann, damit „arts education“ weiterhin soziale Wirkungen entfalten kann, wird sie von den Betroffenen als das empfunden, was sie ist, als Behübschung einer fundamentalen politischen Fehlentwicklung bzw. als Ausdruck eines schrumpfenden Mittelstands, deren Mitglieder intuitiv spüren, dass sie an Einfluss verlieren. Da hilft es wenig, mit Hilfe einer normativen Rhetorik, zumindest ihren ideellen Suprematieanspruch weiter aufrechterhalten zu wollen.
Als eine Anregung zum Weiterdenken empfehle ich das Nachhören eines Interviews, das der Journalist Michael Kerbler mit dem deutschen Ökonomen Heiner Flassbeck zum drohenden Zusammenbruch des europäischen Gesellschaftsmodells geführt hat. Darin findet sich auch eine indirekte Antwort auf das Eingangsstatement zum World Summit,„when global resources and economies tighten”. Flassbeck erinnert sich an seine erste Lektion, die er in Volkswirtschaftslehre erhalten hat: „Die Summe der Gläubiger- und Schuldnerbeziehungen saldieren sich weltweit auf Null“. Vereinfacht gesagt: Was den einen genommen wird, wird den anderen gegeben oder was den einen das Strammziehen der Lebensgrundlagen ist, bewirkt bei anderen deren Lockerung.
Das aber kann nur heißen, dass den Verlierern der massenhaften Verelendung vor allem junger Menschen, die zur Zeit Europa überzieht, eine in der Regel unerwähnt bleibende Anzahl an Gewinnern gegenüber steht, die von der wachsenden Verungleichung der europäischen Gesellschaften unmittelbar profitieren.
„Arts education“ (erfunden als Ausdruck einer prosperierenden kapitalistischen Wachstumsgesellschaft) ist – entgegen mancher kultur- und bildungspolitischer Äußerungen und in Ermangelung entsprechender Gegenentwürfe – kein geeignetes Instrument, die aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen zu korrigieren. Sie immerhin wahrzunehmen und sich dazu zu verhalten aber könnte die Glaubwürdigkeit ihrer VertreterInnen schlagartig verbessern.
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