Was gibt es Neues? – Heinz Conrads gegen Alexander Pereira, das nenn‘ ich Brutalität
Lange vor dem Entertainer Oliver Baier fragte der legendäre Conferencier Heinz Conrads jeden Sonntagmorgen in seiner Radiosendung „Was gibt es Neues?“. In seiner „singenden, klingenden Wochenplauderei“ begrüßte er über Jahrzehnte hinweg seine ZuseherInnen mit „Küss die Hand die Damen, guten Abend die Herren, guten Abend die Madln und Servas die Buam“ und versorgte ein breites Publikum mit Schmankerl aus dem aktuellen Kulturleben. Im Gespräch mit Künstlergrößen der damaligen Zeit pflegte er eine scheinbar naturhaft gewachsene Kontinuität eines unverwechselbaren österreichischen Stils, dem er mit Ausflügen ins Böhmische und Ungarische eine frühe interkulturelle Note verlieh. Kein anderes Lied als „Meine kleine Philosophie“ verdeutlicht besser den Willen zur Anpassungsfähigkeit an die gegebenen Umstände, die zu besingen Conrads wie kein anderer verstand, und diesen zur höchsten Tugend hochzustilisieren.
Bei dieser sentimentalen Retrospektive beschäftigt mich die Frage, ob es möglich wäre, den gegenwärtigen Intendanten der Salzburger Festspiele Alexander Pereira in eine von Conrads Sendungen einzuladen, und wenn ja, was sich die beiden zu sagen hätten. Pereira hat sich nicht unbedingt als eine Ausgeburt an Anpassungsleistung gegenüber seinem politischen Aufsichtsgremium erwiesen und auch in Sachen österreichischer kultureller Identität (für die die Salzburger Festspiele lange Zeit paradigmatisch gestanden sind) – so fürchte ich – hätten sich die beiden wenig zu sagen.
Kaum eine andere personelle Konstellation verdeutlicht mehr den kulturellen Bruch, der seit der „guten alten Zeit“ des Heinz Conrads ins Land gegangen ist. Wenn Conrads einem – bereits damals heftig geschmähten – kleinbürgerlichen Lebensgefühl Ausdruck geben wollte, so konzentriert sich die aktuelle Auseinandersetzung über den Verbleib oder Nichtverbleib des Leiters des prestigeträchtigsten Festivals Österreichs heute ausschließlich auf finanzielle Aspekte.
Kein Wort über die künftige künstlerische Ausrichtung, kein Wort über erwartete kulturpolitische Wirkungen, die diese alljährliche Ansammlung an höchstbezahlten Stars haben könnte bzw. aus der Sicht der politisch Verantwortlichen haben sollte. Stattdessen täglich neue Nachrichten, die es mittlerweile bis auf die Titelseiten von Tageszeitungen schaffen, zu den Auseinandersetzungen über Sponsorengelder, die diejenigen, die nach neuen künstlerischen Begründungen eines solchen finanziellen Aufwandes fragen, zunehmend ratlos zurücklassen.
Starting point of each cultural policy discussion: “We are living in times of unprecedented change”
Bereits in den 1990er Jahren hat Ken Robinson in einem gemeinsamen Europaratsprojekt gemeint: „Europe, in common with other regions, is struggling to engage with a catalogue of structural, demographic and cultural changes that are fundamentally transforming established ways of life.” Es hat länger als erwartet gedauert, dass sich dieser Befund auch in Österreich herumgesprochen hat. Immerhin erweist sich selbst in Zeiten der Krise die kulturelle Infrastruktur als (noch) weitgehend stabil (mehr: in Linz wurde in diesen Tagen sogar ein neues Landestheater eröffnet), obwohl im wirtschaftlich so erfolgreichen Nachbarland Deutschland Kultureinrichtungen von der Schließung bedroht sind. Besonders arg hat es in den letzten Jahren Bulgarien getroffen, wo von ursprünglich mehr als 500 öffentlich betriebenen Theatern nur mehr etwas mehr als 10% ihren Betrieb aufrechterhalten können, während nach dem Ende der kommunistischen Ära in der Phase neuer kapitalistischer Freiheiten der überwiegende Teil geschlossen wurde.
Auch der Kulturbetrieb am südlichen Rand Europas hat mit beträchtlichen Kürzungen der öffentlichen Mittel zu kämpfen. Die türkische Kulturpolitik hat sich überdies zu einem umfassenden Privatisierungsprogramm entschlossen, womit ehedem hoch privilegierte Einrichtungen, deren Betrieb bislang zu 100% vom Staat garantiert wurde, von einem Tag zum anderen auf den Markt verwiesen wurden (in der stillen Erwartung der Regierung, eine radikale Reorientierung in Richtung Nachfrage würde sich in einer konservativeren Programmgestaltung und damit einer ideologischen Unterstützung des gegenwärtigen Regimes Erdogan niederschlagen).
Leidet Europa an einer kulturellen Krise?
Um sich über diese „tektonischen Verschiebungen“ der europäischen Kulturlandschaft im Detail zu verständigen, bekam ich die Gelegenheit, unter dem Titel „Reinventing Cultural Policy? – Kulturpolitik und Good Governance“ für die Universität für angewandte Kunst Wien eine europäische Tagung zu konzipieren, an dem u. a. auch Gäste aus Slowenien, Deutschland, Bulgarien, den Niederlanden und der Türkei teilgenommen haben.
Ausgangspunkt der konzeptuellen Überlegungen war die Vermutung, dass die gegenwärtige Phase, die europäische Gesellschaften zurzeit durchleben, den Charakter einer Wirtschafts- und/oder Finanzkrise bei weitem übersteigt. Vieles spricht dafür, dass mittlerweile grundlegende Wertvorstellungen des Zusammenlebens zur Disposition stehen; ein Umstand, der die kulturellen Verfasstheiten der nationalen Gesellschaften nachhaltig irritiert und damit alle Voraussetzungen für eine neue Hochzeit des kulturellen Diskurses erfüllen würde.
Das aber scheint sich in den europäischen Institutionen erst sehr fragmentarisch durchgesprochen zu haben, wenn sich das neue Kulturprogramm „A Creative Europe“ im Wesentlichen darauf beschränkt, „Kultur“ als zunehmend allein seligmachenden Wirtschaftsfaktor zu propagieren, in der Hoffnung, der Kulturbetrieb könnte ausgerechnet im Prokrustesbett wirtschaftlicher Logiken seine volle Entwicklung entfalten.
Besonders relevant für die künftige kulturpolitische Entscheidungsfindung scheint der Umstand zu sein, dass die aktuellen wirtschaftlichen Verwerfungen auf dem europäischen Kontinent zu einer neuen Qualität materieller Ungleichheit geführt hat. Zu vermuten ist, dass die wachsende Anzahl der KrisenverliererInnen immer weniger bereit sein wird, auch noch so freundlichen politischen Einladungen, das öffentlich geförderte Kulturprogramm wahrzunehmen, zu folgen. Umso größer aber mag der Wunsch der KrisengewinnerInnen sein, ihrem neuen Reichtum auch einen kulturellen Anstrich zu geben, um nicht nur als KulturkonsumentInnen, sondern auch als kulturpolitische AkteurInnen ernst genommen zu werden.
Nachdenklich könnte die VertreterInnen der Kulturpolitik machen, dass die von der EU forcierte Kulturindustrie viel von dem eingelöst hat, wofür Kulturpolitik einst angetreten ist, wenn es seit den 1970er Jahren darum geht, einen breiten Zugang zu kulturellen Angeboten zu ermöglichen, überkommene ideologische Barrieren abzubauen und somit den geänderten Marktbedürfnissen Rechnung zu tragen. Die emanzipative Kraft des Marktes hat freilich dazu geführt, dass die traditionelle kulturelle Infrastruktur einem zunehmenden Druck zur Vermarktwirtschaftlichung ausgesetzt ist. Es ist – ganz im Sinne der Argumentation Alexander Pereiras – immer weniger die künstlerische Positionierung, sondern die Fähigkeit zur Durchsetzung ausgefeilter (und teurer) Marketingstrategien, die über Erfolg und Misserfolg auf den Märkten der Aufmerksamkeit entscheiden. Das ist durchaus im Sinn potentieller KonsumentInnen (sofern sie es sich leisten können), denen es in der Regel egal ist, ob das kulturelle Angebot öffentlicher oder privater Natur ist, wenn es nur die jeweiligen Erwartungen trifft.
Den wohl gravierendsten Unterschied zu den Zeiten eines Heinz Conrads macht der Umstand, dass es mittlerweile einem wirtschaftlich-technologischen Komplex gelungen ist, eine unübersehbare neue Vielfalt an neuen kulturellen Räumen aufzutun. Es sind vor allem die digitalen Medien, die die Chancen auf kulturelle Selbsttätigkeit enorm erhöht haben, wobei zu vermuten ist, dass sich das Gros der sich die dort versammelten AkteurInnen zwischenzeitlich vom bestehenden kulturellen Angebot weitgehend emanzipiert hat. Die bei der Tagung anwesende Bundesministerin Claudia Schmied hat in ihrer Rede keinerlei Hehl daraus gemacht, in Bezug auf diese kulturelle Revolution bislang keine adäquaten kulturpolitischen Antworten gefunden zu haben.
John Holden vom englischen Think Tank Demos hat in einem Beitrag zu „democratic culture“ gemeint, die traditionelle Unterscheidung zwischen „state funded culture“, „commercial culture“ und „homemade culture“ sei an ihr Ende gekommen. Die Qualität künftiger Kulturpolitik erweise sich nicht mehr darin, den einen gegen den anderen Bereich zu verteidigen, sondern alle drei Bereiche zusammenzudenken und im Sinne der NutzerInnen künftige Maßnahmen aufeinander zu beziehen.
Über die Bedingungen der Möglichkeit
In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen wiederholte die für Kunst- und Kulturpolitik gleichermaßen zuständige Bundesministerin Claudia Schmied im Rahmen ihres ausführlichen Statementsden Anspruch von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik. Sie bezog sich dabei auf eine überfällige Wertediskussion, in der dem Kulturbetrieb nach wie vor eine besondere Aufgabe zukommen würde. „Ihrer Kulturpolitik“ wies sie vorrangig die Aufgabe zu, „als ein verlässlicher Partner Bedingungen der Möglichkeit künstlerischen und kulturellen Schaffens“ zu gewährleisten, wobei sie Partnerschaften zwischen öffentlichen und privaten AkteurInnen Positives abgewinnen konnte, zugleich aber darauf Wert legte, dass privates Engagement kein Ersatz für öffentliche Finanzierung darstellen dürfe. Breiten Raum widmete sie ihrer politischen Zuständigkeit, personelle Entscheidungen zu treffen. Und da war er wieder, wenn auch unausgesprochen im Raum, der unermüdlich fundraisende, eigentlich künstlerische Intendant der Salzburger Festspiele, der wie kein anderer kulturpolitisch das verkörpert, was einer kulturpolitischen Wertediskussion zur Zeit so sehr einen Stempel aufdrückt.
Vergessen Sie ein Kulturministerium! – Kulturzuständigkeiten in allen Ressorts
In seinen Überlegungen wagte sich Helmut Anheier, Rektor der Hertie School of Governance in Berlin am weitesten vor. Seine Ausführungen glichen über weite Strecken einem Farewell nationalstaatlicher kulturpolitischer Ansprüche, die er (siehe Ungarn) für zunehmend gefährlich, in jedem Fall dem Stand der kapitalistischen Entwicklung der europäischen Gesellschaften entsprechend, für überkommen einschätzte.
Die Arenen der Kulturpolitik hätten sich weitgehend auf die Ebenen der Stadtentwicklung verlagert, wo es darum gehe, Kulturbetriebe aus ihrer isolierten Rolle zu befreien und sie im Zusammenwirken mit vor- und nachgelagerten Unternehmen in ökonomisch erfolgreiche „value chains“ zu integrieren, die mithelfen sollen, im globalen Wettbewerb Standortvorteile zu generieren.
Besondere Aufmerksamkeit erregte er wohl mit der These, isolierte politische Zuständigkeiten zugunsten von Kunst und Kultur gehörten der Vergangenheit an. Um dem Querschnittscharakter von Kulturpolitik künftig bestmöglich Rechnung zu tragen, schlug er vor, möglichst hochrangige kulturelle Zuständigkeiten in allen Bereichen zu implementieren. Nur so sei es möglich, die spezifischen kulturellen Potentiale im Bereich der Wirtschaft, Soziales, Gesundheit, Bildung, Verkehr oder Landwirtschaft Realität werden zu lassen. Für die wiederholt gestellte Frage einer legitimatorischen Begründung von neuen kulturpolitischen AkteurInnen wie privaten Stiftungen hatte er die pragmatische Antwort parat: Da sollten wir nicht so pingelig sein, immerhin gäbe es eine Reihe, weit mächtigerer, nicht demokratisch legitimierter AkteurInnen, z.B. die Kirchen, die bei ihrem gesellschaftspolitischen Engagement traditionell wenig Skrupel zeigen würden.
Die kulturpolitische Diskussion soll weitergehen
Es gäbe noch eine Reihe von weiteren Einlassungen – etwa des designierten Intendanten des Wiener Konzerthauses Matthias Naske, der u.a. davon sprach, ein ebenso voll ausgelastetes wie nahezu bankrottes Haus zu übernehmen, dessen anwaltschaftliche Funktion zugunsten nicht marktförmiger neuer Musik nur mit Hilfe der öffentlichen Hand aufrechterhalten werden könne.
Die Universität für angewandte Kunst Wien beabsichtigt, eine Publikation mit allen Beiträgen herauszubringen, in der Hoffnung, die in Österreich weitgehend zum Erliegen gekommene kulturpolitische Diskussion über die nächsten Wahlen hinausgehend stimulieren zu können. Überlegt werden auch weitere Veranstaltungen, um das eine oder andere Thema vertiefen zu können.
Bis dahin wird wohl entschieden sein, ob das gegenwärtige, politisch zusammengesetzte Kuratorium der Salzburger Festspiele kulturpolitische Vorgaben zu entwickeln vermag, die darüber hinausgehen, ob 60 oder 63 Mio. Euro eingenommen und ausgegeben werden dürfen. Bis dahin können wir auf Youtube als einem der neuen kulturellen Räume nachhören, was wir seit der Zeit Heinz Conrads kulturell verloren und was wir gewonnen haben.
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)