Was ist österreichisch?
Selten ist es mir so schwer gefallen, einen Blog zu beginnen. Vorgenommen habe ich mir das Thema „Was ist (für mich) österreichisch?“ und ganz offensichtlich ist die Frage so stark mit nur schwer fassbaren Gefühlen aufgeladen, verweist auf tief verinnerlichte Bindungen, sodass sich mir eine einfache und unbelastete Antwort verweigert.
Ich erinnere mich an eines meiner wenigen „grundsätzlichen“ Gespräche mit meinem Vater, in dem er mich gefragt hat, wem ich im Fall eines Unfalls zuerst helfen würde, einem nahen Verwandten oder einem Unbekannten. Als ich meinte, das würde wohl auf die Schwere der Verletzung ankommen, war er schwer enttäuscht. Er sah mich wohl als Verräter unbedingter Familienwerte, wonach sich jegliche Hilfeleistung immer zuerst an die engsten Familienmitglieder zu richten habe.
Und jetzt geht es mir ganz ähnlich bei den Worten des ÖVP-Präsidentschaftskandidaten Andreas Kohl, demzufolge angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise „Nächstenliebe“ im unmittelbaren Umfeld, für ihn also in Österreich und bei den ÖsterreicherInnen zu beginnen habe und nicht dort, wo die Not am größten ist.
Jetzt klingt die Zuschreibung „österreichisch“ vorerst einfach, bei genauerem Hinschauen wird die Unbestimmtheit aber immer größer und verhindert klare Zuschreibungen. Klar, Österreich lässt sich als Staatsgebiet definieren; die Mehrzahl der Menschen, die darin wohnen, bekennen sich zur österreichischen Nation, verfügen über die österreichische Staatsbürgerschaft, zahlen Steuern, befolgen Gesetze, beziehen Sozialleistungen. Das alles tun aber Menschen in anderen Ländern auch; diese Grundtatsachen eignen sich also nur sehr bedingt für eine hinreichende Unterscheidung.
Sprache und Landschaft machen offensichtlich nicht den Unterschied
Also müssen andere Charakteristika herhalten, die das Besondere des Österreichischen deutlich machen sollen. Gerne wird die Sprache als ein besonderes Unterscheidungsmerkmal ins Treffen geführt. Immerhin hat bereits Karl Kraus davon gesprochen, dass sich Deutsche und Österreicher vor allem durch ihre gemeinsame Sprache unterscheiden würden. Aber auch dazu eine persönliche Erinnerung: Als Bub verbrachte ich die Sommerferien gerne bei Verwandten in Oberösterreich. Die weitschichtige Tante, die ich besuchte, verständigte sich über die Straße hinweg mit einer Nachbarin in einer Sprache, von der ich kaum ein Wort verstand. Bei aller familialen Bande musste ich mir erst mühsam den Dialekt aneignen, um zu verstehen, was da gesprochen wurde. Die gemeinsame Sprache kann es also nicht sein.
Etwas später verbrachte ich als junger Lehrer meine Sommerferien im Norden Indiens. Zu meiner großen Überraschung sah es in weiten Teilen Kaschmirs aus wie in den österreichischen Alpen: Grüne Wiesen, weidende Kühe, Tannenwälder, strahlend blauer Himmel, rauschende Bäche. Eine wohlbekannte Umgebung also, die eine herausragende Topographie als weiteres mögliches Kriterium zur Erkennung des spezifisch Österreichischen unter Verdacht geraten ließ.
Es geht nicht ums „Was ist“, sondern ums „Was war“
In den unzähligen Erklärungsversuchen des typisch Österreichischen, mit denen ich mich seither beschäftigt habe (und die sich nur zu leicht als Verklärungsversuche erwiesen haben) ist nicht die Rede von dem „was ist“, sondern von dem „was war“. So hat zuletzt Paul Lendvai in einem Kommentar in der Zeitung Der Standard angesichts der vielfältigen Herkunft derer, die in Österreich Aufenthalt haben oder suchen, noch einmal aus seiner Lektüre von Joseph Roths Kapuzinergruft den Schluss gezogen, Österreich sei gar keine Nation sondern eine „Übernation“. Eine solche würde alle ethnischen, religiösen und kulturellen Unterschiede der untergegangenen Monarchie in sich vereinen: „Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation. Es ist eine Religion. Die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat“. Während damit Joseph Roth den integrativen Charakter des Österreichischen hervorhob, meinten zur selben Zeit andere Österreich-Konstrukteure wie Hugo von Hofmannsthal, ein typisches Österreichertum im Gegensatz zu anderen, etwa den Preußen, herbeifantasieren zu müssen, die sich in ihrer Gesamtheit von ihren südlichen Nachbarn unterscheiden würden.
Einen umfassenden historischen Abriss dessen, was Österreich zu dem machen würde, was es heute ist, hat zuletzt Hans Rauscher im Gedenkjahr 2005 herausgebracht. In seinem „Das Buch Österreich“ findet sich eine Vielzahl von vor allem literarischen Dokumenten, die eine lange Tradition des typisch Österreichischen verdeutlichen sollen. Da darf das Lied vom edlen Ritter Prinz Eugen, der in grauer Vorzeit eine „Brukken“ hat bauen lassen, um die Türken bei „Belgerad“ zurückzuwerfen, natürlich nicht fehlen. Stattdessen sucht man literarische Zeugnisse, welche die vielfältigen Zuwanderer, u.a. aus Ungarn, Polen, Bosnien oder der Türkei erwähnen, von denen sich die Mehrzahl heute als Teil der österreichischen Bevölkerung sehen, vergebens.
Gibt es ein unterschiedliches Österreich-Verständnis, je nachdem, wo ich in Österreich lebe?
Auffallend bei all den Geschichten scheint mir zu sein, dass sie sich allesamt sehr auf den Osten Österreichs beziehen. Vieles, was sich im historischen Nachvollzug als das typisch Österreichische konstituierend zeigt, verweist auf einen melancholischen Nachklang der imperialen Bedeutung Wiens als einem „melting pot“ mit internationaler Ausstrahlung. Demgegenüber bin ich jenseits der Enns bei meinen GesprächspartnerInnen im Westen Österreichs immer wieder darauf gestoßen, dass das, was immer in Wien ausgemacht werden würde, bei ihnen nur von sehr beschränkter Relevanz sei (mehr als ein Indiz dafür ist die mangelnde Bereitschaft, sich „von Wien“ vorschreiben zu lassen, wie viele Flüchtlinge aufzunehmen sind).
Zwar mag der aktuelle Befund stimmen, dass sich mehr als 80% der Bevölkerung als Teil der österreichischen Nation definieren. Trotzdem könnte es ebenso richtig sein, dass dieser hohe Grad an Zustimmung nur möglich ist, weil sich dahinter sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Österreichertum verbergen, die genauer zu untersuchen, man aus Gründen der politischen Opportunität tunlichst zu vermeiden trachtet. Dazu ertappe ich mich selbst dabei, mich zuallererst als Wiener zu sehen; einem Wiener, der froh ist, in der Anonymität der Großstadt selbst entscheiden zu können, mit wem er was zu tun haben möchte. (Als ein solcher Städter fühle ich mich auch vom wienerischen Idiom des Radio Ö1-Angebots besonders angesprochen, auch oder gerade deshalb, weil die Signations zu den einzelnen Sendungen vom Tiroler Werner Pirchner stammen. Die bemühten Versuche eines Hannes Leopold Mayer, mit seinen Moderationen samt Musikauswahl noch einmal so etwas wie eine gesamtösterreichische kulturelle Identität aus dem Geist einer gemeinsamen Traditionspflege zu stiften, muten vergleichsweise anachronistisch an.)
Ach, die Werte
In der aktuellen Flüchtlingsdiskussion wird gerne auf ein spezifisches Set an Werten verwiesen, die das Leben in Österreich bestimmen würden und so den ZuwanderInnen vermittelt werden müssten. Dazu hat das Außenministerium eine „Wertefibel“ herausgegeben, die staatlicherseits die Werte vorgibt, die für ein Zusammenleben in Österreich konstitutiv sein sollen. Bei genauerem Studium fällt auf, dass sich die propagierten Werte in keiner Weise auf Österreich reduzieren lassen. In ihrem globalen Anspruch auf Gewaltenteilung, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit beschreiben sie nichts weniger als ein spezifisches Österreichertum, sondern vielmehr globale zivilisatorische Errungenschaften, die sich jedenfalls nicht geographisch verorten lassen.
Als solche sind sie – jedenfalls für mich – Anlass für ein Eingeständnis, wonach es eine Reihe von Menschen außerhalb der nationalen Grenzen gibt, mit denen ich mich zu den genannten Werten in einem wesentlich intensiveren Einverständnis weiß, als mit so manchen meiner unmittelbar benachbarten MitbürgerInnen. Offenbar geht selbst höchsten politischen RepräsentantInnen, wenn auch nicht in Österreich so doch in Deutschland, dabei ähnlich, wenn doch Angela Merkel angesichts einer drohenden Verschiebungen des Werteverständnisses selbst in den eigenen Reihen jüngst meinte: „Das ist dann nicht mehr mein Land“.
Nicht was wir sind ist entscheidend, sondern was wir sagen
Diese Aussage ist nur ein Ausdruck einer, durch die aktuelle Flüchtlingskrise zugespitzten, Verunsicherung darüber, was auch in Deutschland angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen noch unter Deutschtum zu verstehen wäre. Die Süddeutsche Zeitung hat deshalb unter dem Titel „Was ist deutsch?“ eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht, die allesamt angesichts der demografischen Veränderungen überkommene nationale Homogenitätsvorstellungen umkreisen. In besonderer Erinnerung ist mir dabei der Beitrag „Wir müssen reden“ des deutschen Soziologen Armin Nassehi geblieben. Er warnt darin eindringlich vor allen Versuchen, sich noch einmal auf die Suche nach einem „Kern des Eigenen“ zu machen, den es dann nicht nur zu definieren und gegenüber den Anderen abzugrenzen, sondern darüber hinaus zu verteidigen gälte. Er beschränkt sich stattdessen in seiner Zuschreibung des Deutsch-Seins auf den Umstand, in Deutschland zu leben: „Mehr sollte man darüber nicht sagen müssen“.
Die Zuschreibung ist in Deutschland leichter als in Österreich, wenn doch dort im Jahr 2000 ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet wurde, das dem Leben in Deutschland eine andere Bedeutung zumisst, wenn mit der Geburt die Mitgliedschaft in der deutschen Bevölkerung mit allen Rechten und Pflichten gewährleistet ist; Österreich meint dazu im Gegensatz, sich in seiner offiziellen Zuschreibung nach wie vor auf ein überkommenes ius sanguinis beziehen zu müssen. Das führt im Ergebnis dazu, dass in Österreich geborenen und aufgewachsenen jungen Menschen die Staatsbürgerschaft verwehrt wird, ja ihnen die Abschiebung in das Land ihrer Eltern drohen kann, zu dem sie selbst keinerlei Bezug gefunden haben. Das in Deutschland geltende ius solis macht es leichter, sich an Nassehis Rat zu halten, der meint, es sei höchste Zeit, in den aktuellen Zuschreibungsversuchen weniger darüber befinden zu wollen, was ein Mensch ist (oder geworden ist), sondern sich darauf zu beschränken, was er oder sie sagt.
Ja, ein solcher Einstellungswandel vom Sein zum Gespräch kann kränkend sein (immerhin will sich der Stolz auf sich selbst manifestieren); aber er ist wahrscheinlich die einzige Chance, damit aufzuhören, entlang überkommender Mentalitäten nach Verbindlichkeiten zu suchen und stattdessen den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft zu wenden, und so die Auseinandersetzung darüber zu führen, wie wir in Zukunft miteinander leben und auskommen wollen.
Für mich verändert sich damit der Charakter der Frage „Was ist österreichisch?“ von der Suche nach ebenso unverbrüchlichen wie falschen Bestimmungsstücken dessen, was mich als Österreicher ausmacht, hin zu einer Vorstellung, zu einer Vereinbarung, vielleicht auch zu einem in neue Geschichten fassbares Versprechen, wie wir künftig auf dem Staatsgebiet Österreich und darüber hinaus in der Welt leben wollen.
Für eine Erneuerung des europäischen Versprechens im Geist der Vielfalt
Es war genau dieser Zugang, der 1995 so viele ÖsterreicherInnen dafür hat entscheiden lassen, künftig (auch) BürgerInnen der Europäischen Union sein zu wollen, auch oder gerade weil es dazu noch keine fertige Vorstellungen gab und man sich der Hoffnung hingeben konnte, obige Werte ließen sich in einem solchen neuen politischen Projekt leichter und tiefer gehender realisieren als in den verkrusteten nationalen Strukturen.
Die Permanenz der Krisenerscheinungen haben es den politischen RepräsentantInnen schwer gemacht, diesem Versprechen hinreichend Nahrung zu geben und den jungen EuropäerInnen einleuchtende und motivierende Geschichten über ein prosperierendes Zusammenleben in einem geeinten Europa zu erzählen, um deren Mentalitäten nachhaltig zu verändern. Und so ist es nicht gelungen, ein Europa der vielen nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen zu verankern. Entsprechend schlaff hängt die Idee eines auf Vielfalt begründeten Europa in den Seilen. Und mehr und mehr Menschen sehnen sich zurück nach einem homogenen, von dörflichen Strukturen bestimmten Österreich-Bild, das uns die Zeitung „Österreich“ täglich neu zeichnet, wo jeder jeden kennt und kontrolliert, jeder sich ausschließlich um seine eigenen Nächsten kümmert und alle anderen gefälligst draußen bleiben sollen.
Dieses Bild war aber immer schon falsch, jetzt ist es zudem – wieder einmal – höchst gefährlich.
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