„We all are living and breathing culture all the time” (Jordi Marti)
Vor ein paar Tagen erzählte der Direktor des Wien.Museums Wolfgang Kos in einem Radiointerview über die aktuelle Ausstellung seines Hauses „Wiener Typen Klischees und Wirklichkeit“. Die Präsentation rankt sich um die Romantisierung von Berufsbildnern wie Schusterbuben, Wäschermädel, Scherenschleifer oder Lavendelfrauen, die ab dem frühen 19. Jahrhundert ein verunsicherter Mittelstand zur beschönigenden Rekonstruktion eines „Alt-Wien-Bildes, wie es niemals war“ benutzte.
Eindringlich schilderte Kos den Umstand, dass die erste Modernisierung Wiens die Stadt für Jahrzehnte zu einer riesigen Baustelle gemacht hat, die die traditionsverhafteten BürgerInnen sehnsuchtsvoll zurück in eine vermeintlich bessere Vergangenheit schauen ließ. Ergebnisse dieser Umwälzungen waren u. a. der Neubau der großen Kultureinrichtungen der Ringstraße, die bis heute zum festen Bestand der kulturellen Infrastruktur gehören. Damals waren sie einerseits Ausdruck des letzten Aufbäumens eines politischen Repräsentationswillens zur Aufrechterhaltung eines auseinanderstrebenden Vielvölkerstaates. Und andererseits dienten sie zur Selbstdarstellung eines zwar wirtschaftlich erfolgreichen, aber politisch einflusslosen Bürgertums, das zumindest künstlerisch der herrschenden Aristokratie auf Augenhöhe begegnen wollte.
Die politische Verfassung hat sich seither mehrfach geändert. Immerhin erweist sich Österreich seit nunmehr 70 Jahren als eine stabile Demokratie, deren Kulturbegriff sich im Vergleich zur ausgehenden Monarchie nachhaltig verändert hat. Weder scheint es heute opportun, mithilfe des Angebotes der großen Einrichtungen einen wie immer gearteten kulturellen Suprematieanspruch aufrecht zu erhalten, noch gibt es den Bedarf eines politischen Ersatzspielfeldes, auf dem eine gebildete Elite ihre politische Machtlosigkeit zu kompensieren sucht.
Die Einrichtungen aber sind nach wie vor da. Als Zeugnisse der angesprochenen ersten Modernisierungswelle haben sie im Rahmen der weiteren politischen und kulturellen Entwicklung keine ebenbürtigen Nachfolger gefunden (einzige Ausnahme stellt das MuseumsQuartier dar, das sich in der barocken Architektur der ehemaligen Hofstallungen eingenistet hat). Da ist es nur folgerichtig, wenn sie bis heute das Gros der für Kunst und Kultur gewidmeten öffentlichen Fördermittel für sich beanspruchen. Um diese Privilegierung durch den Staat weiterhin zu legitimieren, haben sich in den letzten Jahren vielfältige, kulturpolitisch gewünschte Vermittlungsformen etabliert, die versuchen, das Wegbrechen eines sie tragenden Bildungsbürgertums durch Attrahierung sogenannter neuer, bislang vernachlässigter sozialer Schichten auszugleichen.
Diesbezügliche kulturpolitische Strategien laufen auf die Hoffnung hinaus, die herrschende Angebotsorientierung aufrechterhalten zu können, wenn es nur gelingt, mit geeigneten Maßnahmen eine hinlängliche Anzahl neuer NutzerInnen zu erreichen.
Kultureinrichtungen als Repräsentationsformen einer vergangenen Zeit und der Anspruch auf eine demokratische Kultur – wie kann das zusammen gehen?
Stutzig geworden bin ich bei der Lektüre einer Analyse des britischen Kulturpolitikforschers John Holden, der diese Form der kulturpolitischen Fokussierung zur Aufrechterhaltung eines staatlichen Kulturangebotes in Frage stellt. In seinem Beitrag „Democratic Culture – Opening up the Arts to Everyone“, den er für den englischen Think Tank demos erstellt hat, bestätigt er die die weitreichenden (aus seiner Sicht revolutionären) Veränderungen, die vor allem das kulturelle Alltagsverständnis in den letzten Jahren durchgemacht hat. Um diese verständlich zu machen, unterscheidet er zwischen dem Angebot des öffentlich geförderten Kulturbetriebs, einem kommerziellen Kulturangebot und dem, was Menschen selbst kulturell gestalten. Unter der nicht ganz glücklichen Überschrift „homemade culture“ verortet er all diejenigen kulturellen Leistungen, die sich nicht im Wahrnehmen von kulturellen Angeboten – sei es staatlichen oder kommerziellen – erschöpfen, sondern die selbsttätige kulturelle Produktion von Menschen mit ganz unterschiedlichen persönlichen, beruflichen oder kulturellen Hintergründen in den Mittelpunkt rücken.
Holdens Befund zur neuen Welle der kulturellen Modernisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts: „We are living in a profoundly different cultural world to that we existed even a decade ago, because technology has done two things: first it has put the tools of cultural production into the hands of everyone. Musical instruments cost less and are better; cameras are cheap and easy to use; new software means you can edit sound recordings to professional standards in your own bedroom. More important still. the internet has enabled anyone and everyone to communicate their work, to collaborate with other, and to monetise their songs or their poems, or whatever it is they are making”.
Diese Eloge der kulturellen Selbstermächtigung mag manchen noch zu euphorisch klingen; in ihren möglichen kulturpolitischen Konsequenzen bleibt sie bislang weitgehend unterbelichtet. Das ist einer der Gründe für den Versuch einer inhaltlichen Begründung des Anspruchs von „Reinventing Cultural Policy“ (Unter diesem Titel findet am 3. Juni an der Universität für angewandte Kunst in Wien ein ganztägiges Symposium statt).
Im Zentrum steht zum einen die Frage, ob und wenn ja wie es gelingen kann, kulturelle Repräsentationsformen einer vordemokratischen Gesellschaft nicht nur normativ, sondern auch real demokratietauglich zu machen. Meine diesbezügliche Vermutung – auch anhand internationaler Vergleiche – läuft darauf hinaus, dass die bisher angewandten Vermittlungsstrategien bei allen guten Absichten der Beteiligten dafür nur bedingt tauglich sind und a la longue nicht verhindern werden können, dass sich der Graben zwischen dem bestehenden Kulturangebot und der Nachfrage in einer pluralistischen Gesellschaft weiter vertiefen wird.
„Put the people First“ als neue handlungsleitende Losung der Kulturpolitik?
Wenn Holdens Einschätzung nicht ganz falsch ist, dann erscheint mir die Frage der Ausgestaltung einer „demokratischen Kultur“ und was das für Kulturpolitik heißt, weitreichender und dringender. In dem Zusammenhang ist mir die Leitidee einer modernen Bildungspolitik „put the learner first“ in den Sinn gekommen. Sie geht von einer Kehrwendung bei der Schaffung produktiver Lernsettings aus, die sich nicht in erster Linie an den Bedürfnissen der jeweiligen Bildungsinstitution und ihren RepräsentantInnen, sondern an denen der Lernenden orientiert. Wie schwer das ist, zeigen die aktuellen Bemühungen um überfällige Bildungsreformen, im Rahmen derer sich – zum Nachteil der Lernenden – die zuständigen BildungspolitikerInnen die Zähne an den institutionellen Beharrungskräften ausbeißen.
Übertragen auf den Kulturbereich mutierte der Slogan „put the learner first“ zum Anspruch „put the people first“, mit denen und für die es kulturpolitisch gilt, ein möglichst reiches und vielfältiges kulturelles Leben zu gestalten. Vorrangiges Hindernis dabei scheint mir zu sein, dass sich der etablierte Kulturbetrieb bislang kaum systematisch über das kulturelle Selbstverständnis, Haltungen, Vorlieben und Erwartungen kundig gemacht und darauf aufbauend handlungsleitende Strategien entwickelt hat. Und auch die Kulturpolitik verfügt kaum über nennenswerte Daten, die kulturpolitische Entscheidungen zugunsten derer, die längst dabei sind, ihr kulturelles Leben selbst in die Hand zu nehmen, faktenbasiert begründen könnten (die zum Teil heftig und kontrovers diskutierten Ergebnisse der „Jugendkulturbarometer“ des Deutschen Zentrums für Kulturforschung bilden dazu noch einige der wenigen Ausnahmen).
In jedem Fall kann ich mir vorstellen, dass ein solcherart gewendeter kulturpolitischer Blick für viele RepräsentantInnen des etablierten Kulturbetriebs eine beträchtliche Provokation bestehender Allianzen zwischen Kulturpolitik, -verwaltung und -institutionen bedeutet. Immerhin stellt eine solche neue Sichtweise die herrschende Angebotsorientierung, die es auf den immer kompetitiver werdenden Kulturmärkten mit den staatlichen Akteuren unter allen Umständen zu verteidigen galt, in Frage. Darüber hinaus könnten KünstlerInnen einwenden, damit würde die – gerade in Österreich erst spät und mühsam erkämpfte – Autonomie der Kunst in Frage gestellt, wenn nunmehr auch Nicht-Künstler, nicht nur als BesucherInnen sondern als aktiv Mitwirkende in künstlerische Prozesse einbezogen würden.
Wechselseitige Abgrenzung oder Zusammenschau?
Und in der Tat tut sich da Holden als Engländer leichter, wenn es in seinem Land keinen vergleichbaren Verteidigungsbedarf eines künstlerischen Autonomieanspruches gibt. „Homemade culture“ ist dort ganz offensichtlich kein pejorativer Begriff und KünstlerInnen aller Kunstsparten nehmen ganz selbstverständlich an „community arts projects“ teil, ohne dass dadurch ihr künstlerischer Qualitätsanspruch leidet.
Holden ist kein Fundamentalist mit dem Ziel der Überwindung der traditionellen kulturellen Infrastruktur. Er setzt statt dessen auf eine bessere Zusammenschau der drei, bislang weitgehend unvermittelt gedachten Bereiche von staatlich geförderter, kommerzieller und selbstgestalteter Kultur: „If you think of the three spheres of culture as different activities, then individually they are unimportant: publicly funded arts are an elitist and minority pursuit, popular culture is trashy entertainment, and homemade culture is hopelessly amateur. But put them all together and you realise that culture is in fact of huge significance because it the second ecosystem of mankind, when we are all living and breathing culture all the time“. Nach seinen Überlegungen würde sich eine strikte Trennung der drei Bereiche kulturpolitisch als zunehmend kontraproduktiv erweisen, zumal die im Kulturbereich Tätigen diesbezügliche Grenzziehungen längst niedergerissen hätten und je nach Gelegenheit in allen drei Bereichen arbeiten würden.
Kulturzuständige in allen Ressorts
In dem Maß, in dem sich der Kulturbegriff in den letzten Jahren nachhaltig geändert hat, lässt sich seine Realisierung immer weniger auf einen engen Kulturbereich (der bislang in staatlichen Kultureinrichtungen sein bewährtes Referenzmedium fand) beschränken. Holdens Vorschlag dazu geht in die Richtung, kulturpolitische Entscheidungen künftig nicht ausschließlich dem Kunst- und Kulturressort zu überlassen. Stattdessen schlägt er vor, Kulturzuständige in allen Ressorts zu verankern und ihre Expertise bei der jeweiligen fachspezifischen Entscheidungsfindung einzubeziehen.
Die Angst, den dramatischen Veränderungen im Laufe der Wiener Stadtentwicklung nicht gewachsen zu sein, hat im 19. Jahrhundert die verunsicherten BürgerInnen zu einer verklärten Rückschau verführt. Zum Trost haben sie kunstvolle Porzellanfiguren auf ihre Tische gestellt, die ihnen eine bessere Vergangenheit vorgegaukelt haben, als sie wirklich war. Die aktuellen Modernisierungstendenzen zur Ausgestaltung einer demokratischen Kultur äußern sich nicht vorrangig in einem langwierigen physischen Umbau der kulturellen Infrastruktur. Sie setzen auf das Recht aller in Österreich lebender Menschen auf aktive Mitgestaltung am kulturellen Leben und machen damit die inhaltliche Weiterentwicklung demokratischer Prinzipien zur neuen Baustelle.
Mit der Produktion einer neuen Serie von Nippes-Figuren, diesmal in Gestalt von traditionellen Kultureinrichtungen, die man im Shop erwerben und auf den Sonntagstisch stellen kann, sollte es diesmal wohl nicht getan sein.
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