Wenn das Volk mitsprechen soll
In diesen Tagen wird in Österreich des Übergangs von einem autoritären Regime zu einem anderen gedacht. Beide sind im Rahmen demokratischer Verfahren an die Macht gekommen und beide haben deren Verfassungsgrundlagen zerstört. Ein zentraler Unterschied des austrofaschistischen zum nationalsozialistischen Herrschaftssystem bestand im Anspruch, diese Zerstörung „selbst“ und damit in genuin österreichischer Verantwortung – und sei es im Versuch des „Überhitlerns“ – herbeigeführt zu haben. Die zweite Version wird hingegen vor allem von konservativen Kräften bis heute als von außen aufgezwungen interpretiert (obwohl illegale nationalsozialistische Kräfte längst das politische Geschehen bestimmt und seit dem Juli-Abkommen 1936 zwischen Hitler und Schuschnigg die Regierung mitbestimmt haben). Als ob es einen wie immer gearteten Vorteil darstellen würde, von den „eigenen Leuten“ drangsaliert zu werden, müssen sich diejenigen, die sich gegen das austrofaschistische Regime gestellt haben, bis heute mannigfache Relativierungen ihrer Notlagen gefallen lassen; und ja, die Nationalsozialisten waren in der Durchsetzung ihres Machtanspruchs noch viel brutaler und konsequenter als die Austrofaschisten, als deren zentrale Legitimation für die Zerstörung der Demokratie die Aufrechterhaltung der Eigenstaatlichkeit Österreichs ins Treffen geführt wird.
Zwei Mal zum selben Thema abstimmen – zwei völlig konträre Ergebnisse
Vergleichsweise unterbelichtet blieb bislang der Umstand, dass beide Regime versucht haben, ihren totalitären Herrschaftsanspruch mit den Mitteln der direkten Demokratie zu untermauern. So hat der austrofaschistische Regierungschef Kurt Schuschnigg am 9. März 1938 für den 13. März die Durchführung einer Volksbefragung über ein „freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ angekündigt. Faszinierend aus heutiger Sicht scheint der Umstand, dass es Schuschnigg dabei gelungen ist, weite Teile derer, gegen die sich seine Politik gerichtet hat, für diese Form der Überrumpelung per Volksentscheid zu gewinnen. So sollen sogar rund 20 000 vom Austrofaschismus verbotene revolutionäre Sozialist*innen an den Vorbereitungen mitgewirkt haben. Einschätzungen von Historiker*innen gehen davon aus, dass Schuschnigg für seine Gelöbnisformel eine bis zu 75%ige Zustimmung erhalten hätte.
Hat er aber nicht, weil Hitler mit diesem letzten Aufbäumen der österreichischen Version eines Unrechtsregimes die Zeit gekommen sah, Tatsachen zu schaffen und in Österreich einzumarschieren. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob sich die Austrofaschisten mit militärischen Mitteln zur Aufrechterhaltung nationalstaatlicher Souveränität den Rollkommandos des Deutschen Reichs hätten entgegen stellen bzw. ob sich Schuschnigg ein Vorbild an Churchill und dessen unbedingter Kampfbereitschaft hätte nehmen sollen. Plausibler ist da schon die Vermutung, dass die beiden Regime in ihrer autoritären Grundausrichtung einfach zu ähnlich waren, um eine hinreichende Mobilisierung gegen den Sieger dieses Bruderzwistes sicher zu stellen.
Immerhin waren die Nationalsozialisten in der Nutzung der Instrumente direkter Demokratie erfahren. Bereits 1933 verabschiedeten sie ein eigenes „Gesetz über Volksabstimmung“. Es folgen mehrere Volksabstimmungen, die bereits getroffene Entscheidungen nachträglich bestätigen sollten. Auf diese Weise ließ sich Hitler den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund 1933 absegnen; es folgte eine Abstimmung über die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und Reichskanzlers 1934, jeweils mit überwältigenden Zustimmungsraten. Im März 1936 folgte die Volksabstimmung über die Ermächtigung zur Rheinlandbesetzung. Und schließlich ließen sich die Nationalsozialisten wenige Tage nach dem Einmarsch in Österreich, am 10. April 1938 „die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ bestätigen. Die zur Legitimierung der Entscheidung aufgerufenen Österreicher*innen antworteten mit 99% Zustimmung.
Die beunruhigende Frage, die mich beschäftigt besteht darin, dass die Berücksichtigung der Stimme des Volkes innerhalb weniger Tage völlig unterschiedliche Ergebnisse zu zeitigen vermag (wobei wir im ersten Fall auf begründete Vermutungen über den Ausgang angewiesen sind). In beiden Fällen handelt es sich um autoritäre Regime, die das Volk zu den Urnen gerufen hat – und dieses zeigt sich in einem Ausmaß opportunistisch („Lass uns gleich zum Schmied gehen und nicht zum Schmiedl“), dass mich das Instrument „direkte Demokratie“ auch im Hinblick auf seine Verwendung innerhalb liberaler Demokratien kritisch befragen lässt.
Die Funktion von Instrumenten der direkten Demokratie angesichts der politischen Wende in Europa
Immerhin versuchten sich zuletzt vor allem populistische Bewegungen die Idee der direkten Demokratie noch einmal zu einem zentralen Mittel zur Durchsetzung ihrer strategischen Machtansprüche zu machen. Sie versprechen, damit der grassierenden Politikverdrossenheit entgegen zu wirken, vor allem aber, die Stimme des Volkes gegen eine abgehobene Elite in einer Weise hörbar zu machen, dass diese in der politischen Entscheidungsfindung nicht mehr ignoriert werden könne.
Dass die Populisten dabei einem beträchtlichen taktischen Kalkül unterliegen, lässt sich zurzeit unschwer am Beispiel des gerade angelaufenen Volksbegehrens zum Nichtraucher*innen-Schutz deutlich machen. Immerhin fand diese, nicht von oben verordnete sondern zivilgesellschaftliche Initiative in nur wenigen Tagen mehr als 500.000.—Unterstützer*innen, noch bevor das Verfahren überhaupt eröffnet wurde. Die FPÖ, die sich im Wahlkampf in besonderer Weise für die Stärkung der direkten Demokratie stark gemacht hat, sieht sich angesichts dieser Zahlen in einem eklatanten Widerspruch zwischen ihren Stammtischwähler*innen, denen Rauchen im öffentlichen Raum als ein unveräußerliches Naturrecht erscheint und denen, die mit ihrer Bereitschaft, das Volksbegehren für ein völliges Rauchverbot zu unterschreiben, die Idee der direkten Demokratie – freilich von unten – unterstützen. Aktuelle Reaktionen führender FPÖ-Vertreter*innen: „Dieses Volksbegehren sei unseriös“.
Um besser einschätzen zu können, welchen Stellenwert Instrumente der direkten Demokratie für die Weiterentwicklung demokratischer Verfassungen zu leisten vermögen, habe ich noch einmal einen Blick in die vergleichende Studie von Wolfgang Merkel und Claudia Ritzi zur „Legitimität direkter Demokratie – Wie demokratisch sind Volksabstimmungen“ aus 2017 geworfen. Immerhin geht die aktuelle Konjunktur vor allem von rechter Seite aus. Und sie ist begleitet von einer nachhaltigen Schwächung der repräsentativen Demokratie, wenn immer mehr nationale Bevölkerungen drauf und dran sind, mit ihren Voten illiberalen und damit zumindest semi-autoritären Herrschaftsformen den Vorzug zu geben. In ihrem umfassenden Ländervergleich kommen Merkel und Ritzi zum ernüchternden Schluss, dass weder auf Partizipations-, noch auf Repräsentations- und Regierungsebene die Zunahme von Versuchen der direkten Mitentscheidung die aktuelle „Krise der Demokratie“ zu lösen vermag, ganz im Gegenteil. Als nur ein Indiz zeigen die Daten, dass die Nutzungsmuster direktdemokratischer Beteiligungsformen die Dominanz sozioökonomisch gut gestellter Bürger*innen mit hohem politischen Interesse bestätigen während die Beteiligung schwacher Milieus nicht nur bei Wahlen sondern auch bei Volksbefragungen und Volksabstimmungen deutlich hinter ihrem Bevölkerungsanteil bleibt. Kurz gesagt: Die Ausweitung politischer Mitentscheidung mit dem Mitteln der direkten Demokratie nützt vor allem denjenigen, die aufgrund ihres herausgehobenen sozialen Status bereits an den Hebeln der politischen Macht sitzen.
Direkte Demokratie als Herrschaftsanspruch einer bislang ausgeschlossenen Elite
Auf der Basis dieses Befundes lassen sich die aktuellen Vorstöße rechtspopulistischer Kräfte nicht als Gegenmittel gegen eine weitere Schwächung der repräsentativen Demokratie interpretieren. Stattdessen treiben sie diese weiter voran mit dem eigentlichen Ziel, die eigenen Führungsgarnituren – wie sich in diesen Tagen am Beispiel des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung zeigt – um fast jeden Preis an die politische Macht zu bringen.
Zunehmend in die Defensive geraten in diesem Machtkampf die Meriten der repräsentativen Demokratie, die vor allem darin bestehen, gewählten Volksvertreter*innen für einen begrenzten Zeitraum die politische Entscheidungsmacht zu überantworten, die diese versprechen, im Sinne ihrer Wähler*innen wahrzunehmen. Erfüllen sie diese Aufgabe nicht oder nur ungenügend, dann können sie bei den nächsten Wahlen abgesetzt und durch andere ersetzt werden.
Dazu kommt die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen, die es schwer machen, fachliche von politischen Entscheidungen zu trennen. Eine der zentralen „Krisen der Demokratie“ besteht im scheinbaren Überhandnehmen von Sachzwängen, die suggerieren, selbst für das Elektorat könnten zentrale Entscheidungen politisch nicht mehr beeinflusst werden (Schwächung des Politischen). Eine solche Einschätzung geht eng zusammen mit der Zunahme eines Generalverdachts gegenüber einer „Expertokratie“, die mit ihrem Aufstieg den Boden ihrer Herkunft unter ihren Füßen verloren hätte und in ihrem neuen Status die Interessen ihrer Herkunftsmilieus schamlos verraten würde. Derartige Interpretationen werden vor allem von Populist*innen geschürt, die mit ihren Slogans noch einmal den Eindruck erwecken wollen, alles sei einfach, wenn man sich nur auf die Seite des Volkes schlagen würde. Und dessen Herz könne man mit den Mitteln der direkten Demokratie am besten schlagen hören.
Gegen diese Formen der politischen Simplifizierung hat zuletzt der US-amerikanische Politikwissenschafter Jason Brennan einen unerhörten Vorschlag eingebracht. In seinem Buch „Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen…“ aus 2017 machte er den Vorschlag, die Mitwirkung an politischen Entscheidungen an einen bestimmten Kenntnisstand zu knüpfen. Und schon sind wir bei Platons Politeia, der die Macht ausschließlich einer Gruppe von Gelehrten überlassen wollte.
Apropos Antike: Besonders gut lassen sich die unterschiedlichen Zugänge zur Frage der politischen Beteiligung auf literarische Weise in Robert Harris‘ Cicero-Trilogie nachvollziehen, wenn er deutlich macht, dass im Richtungsstreit des politischen Establishments offenbar immer wieder Volkstribunen erwachsen, die vorgeben, sich mit dem Volk zu verbünden, freilich nicht um deren Interessen zu vertreten, sondern um die regierenden Eliten vom Thron zu stürzen. Das Volk muss es ausbaden.
Demokratie lebt zuallererst von und in einer diskursiven Öffentlichkeit
Eine Diskussion um Art und Ausmaß direkter Demokratie kann nicht ohne Einbeziehung des Aspekts der Öffentlichkeit geführt werden. Sie ist heute wie kaum zuvor von einer Medienlandschaft geprägt, die – ursprünglich angetreten als Vierte Gewalt – zunehmend von ökonomischen Partialinteressen geprägt wird. Und so nimmt es nicht Wunder, dass die aktuelle rechtskonservativ-populistische Regierung in Österreich sich in Versuchen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in seinem Anspruch auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit seiner Redaktionen zu schwächen, zu überbieten trachtet und einer Kombination aus politischen Machtansprüchen kommerziellen Interessen auszuliefern bestrebt.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Hoffnungsräume in Gestalt der „Social Media“, die im Sinne direkt demokratischer Verkehrsformen einen niederschwelligen Kommunikationszugang versprechen. Auch hier deuten aktuelle Studien darauf hin, dass es vergleichsweise einige wenige hoch politisierte User*innen sind, die mit ihren Hassbotschaften das Meinungsklima nachhaltig negativ zu beeinflussen vermögen während weite Teile der Nutzer*innen sich auf ein passives Konsumverhalten beschränken.
Kunst und Demokratie – Warum Kunst gerade dadurch die Demokratie belebt, dass sie an ihre Grenzen geht
Zum Abschluss noch ein kurzer Ausflug in das Kunstfeld. Immerhin existieren auch in diesem Fachzusammenhang spezifische Verkehrsformen des Ein- und Ausschlusses; viele davon sind mit politischen Ansprüchen verbunden, die – etwa im Zusammenhang mit Bemühungen um breitere Partizipation – über das eigentliche Kunstfeld hinausweisen. Ich habe zuletzt anhand einiger herausragender Figuren wie Frank Castorf oder Matthias Hartmann versucht, den Nachweis zu erbringen, dass viele Künstler*innen noch gar nicht in der Demokratie angekommen sind; geschweige denn, dass sie sich über allfällige Vor- und Nachteile repräsentativer versus direkter Formen der Demokratie auseinander gesetzt hätten.
Als Kunst-Autokraten der alten Schule stehen sie dem wachsenden Partizipationsanspruch auch innerhalb der Kunstszene entgegen – Und werden dabei von Kunsttheoretiker*innen wie Claire Bishop, die 2012 die Studie „Artificial Hells – Participatory Art and the Politics of Spectatorship“ oder dem deutschen Architekten Markus Miessen, für den Partizipation zu einem Albtraum geworden ist, unterstützt. In meinen diesbezüglichen Überlegungen hat mir Oscar Wilde sehr geholfen, der in seinem Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ auf eine kategoriale Unterscheidung zwischen Kunst und Künstler*innen verweist: Während Kunst als ein Medium, das jedes Format zu übersteigen vermag, ihre „Funktion“ zur Aufrechterhaltung liberal-demokratischer Verkehrsformen erst dadurch erfüllt, dass sie diese in einem radikalen Anspruch allenfalls auch in Frage stellt, wird der Künstler bzw. die Künstlerin nicht umhin können, sich zum jeweiligen politischen Kontext in dem er oder sie tätig ist, in Bezug zu setzen. Nichts braucht eine demokratische Gesellschaft weniger als einen „demokratischen Realismus“, der von sich behauptet, sich in den Dienst der demokratischen Sache zu stellen. Zugleich stehen Künstler*innen nicht außerhalb der demokratischen Verfassung (auch wenn das eine Kulturpolitik der 1970er Jahre in Form eines Deals immer wieder angeboten hat: Wir stellen euch mit Hilfe von öffentlicher Förderung unter einen Glassturz, dafür bleibt ihr gesellschaftspolitisch wirkungslos) sondern gestalten diese – so oder so – aktiv mit.
Demokratie kann nicht gewährt werden, sie will auf immer neue Weise erkämpft werden, will sie stark und lebendig bleiben. Dazu gehört auch, an ihre Grenzen zu gehen.
Zu einem zentralen Mittel der Mitgestaltung gehört das Ausloten von Grenzen. Pussy Riot, die vor wenigen Tagen in Wien gastiert haben und in Wien ihre Performances politisch ungehindert zeigen können, haben hierfür eine Ermutigung parat: „Jede Frau kann Pussy Riot sein“. Einen ähnlich radikalen Zugang habe ich zuletzt bei einer Präsentation des Zentrums für politische Schönheit mitgenommen. Auf die Frage aus dem Publikum, ob die jüngsten Erfahrungen der Kunstinitiative mit der deutschen AfD sie nicht an den Errungenschaften der Demokratie Zweifel hegen lasse, meinte die Sprecherin Cesy Leonard: Ganz im Gegenteil. Unsere radikalen Versuche, sich mit den Totengräbern demokratischer Errungenschaften mit symbolisch-künstlerischen Mitteln auseinander zu setzen, haben uns gelehrt, wie wichtig es ist, die Grenzen der Demokratie auszuloten. Erst dadurch konnten wir ihre besonderen Qualitäten überhaupt erst konkret erfahren.
In der historischen Rückschau zeigt sich, dass der Kampf um die Demokratie bereits lange vor 1938 verloren gegangen ist. Das Angebot, ein Mittel der direkten Demokratie zur Legitimation eines undemokratischen Herrschaftssystems zu nutzen, musste mangels einer hinreichenden Anzahl von Demokrat*innen fehlschlagen.
Und vielleicht ist es das Äußerste, was Kunst in der Politik zu leisten vermag: Darauf hinzuweisen, dass es mutiger Demokrat*innen bedarf, auf dass es eine demokratische Zukunft gibt.
P.S.: Cesy Leonhard wird die aktuellen Projekte des Zentrums für politische Schönheit im Rahmen des europäischen Kongresses „Changing Politics – Changing Cultures“, der am 26.4. in der Angewandten in Wien stattfinden wird, vorstellen.
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