
Wenn der Südwind herüberweht
Bei einem der Round Tables, die EDUCULT für unsere Recherche in Sachen „Ruhratlas“ durchgeführt hat, berichtete ein Musikschuldirektor von den Auswirkungen des Projektes „JeKi – Jedem Kind ein Instrument“ auf sein Haus. Traditionell beschränke sich das Angebot seines Hauses auf die Erwartungen bürgerlicher Familien, deren Kinder dank eines fördernden Elternhauses ein musikalisches Vorverständnis mitbrächten, das es zu pflegen und weiterzuentwickeln gelte. Mehr oder weniger bewusst wurde dabei eine Auswahl von rund 2% musikalisch begabter junger Menschen getroffen, die als geeignet angesehen wurden, die Stafette der klassischen Musiktradition weiterzutragen. Die LehrerInnen vermochten so auf der Grundlage eines musikalischen Selbstverständnisses zu unterrichten, das von den SchülerInnen unmittelbar verstanden und daher auch nicht groß in Zweifel gezogen wurde.
Mit der Großaktion „Jedem Kind sein Instrument“, die seit 2006/07 vom Land Nordrhein-Westfalen zusammen mit einigen großen deutschen Stiftungen ausgerichtet wird (und mittlerweile auch in anderen deutschen Bundesländern durchgeführt wird), sollten diese Arbeitsgrundlagen der MusikschullehrerInnen nachhaltig erschüttert werden. Ab sofort galt es, sich vom Anspruchsdenken einer ausgewählten Klientel zu verabschieden und sich statt dessen auf musikalische Lernprozesse einer Mehrheit junger Menschen einzulassen, die von zu Hause ganz andere, in jedem Fall sehr unterschiedliche kulturelle Prioritäten mitbringen. Und das nicht mehr mit einigen wenigen, sondern mit vielen, im Idealfall mit allen.
Eindrücklich wies uns der Musikschuldirektor darauf hin, welche Herausforderung dies für „seine“ LehrerInnen bedeute, die sich auf ganz neue Kommunikationsprozesse einlassen müssten und nicht mehr „automatisch“ davon ausgehen könnten, dass ihre musikalischen Botschaften über die sozialen Grenzen hinweg so verstanden würden, wie sie das bisher als selbstverständlich annehmen könnten.
Nun nimmt „JeKi“ wie mittlerweile viele andere europäische Musikvermittlungsinitiativen gerne Bezug auf „El Sistema“, einer venezolanischen Jugendorchester-Bewegung, die beispielhaft das Erlernen klassischer Musik für die soziale Integration junger Menschen in gefährdeten Lebensumständen nutzt. Erfreulich dabei ist sicherlich die Umkehrung des Entwicklungsgedankens, der diesmal nicht ein weiteres Mal ein europäisches Modell in Lateinamerika implementieren möchte sondern den dortigen Hype für die Promotion von neuen Vermittlungsinitiativen im traditionsreichen alten Kontinent nützt.
Schwieriger erscheint das weitgehende Negieren der unterschiedlichen sozialen Bedingungen, in denen Lernen mit Musik stattfindet. Denn – so der Musikschuldirektor – das größte Problem für die Lehrenden bestünde darin, überhaupt einen Draht zu „jedem Kind“ zu finden, wenn es darum geht, deren musikalische Vorlieben verstehen oder gar schätzen zu lernen, die oft so gar nicht mit den eigenen übereinstimmen. Für ihn wurde bald klar, dass die MusikschullehrerInnen mit den eingeübten Methoden der Musikvermittlung angesichts der neuen Zielgruppen rasch ins Leere laufen würden; dass sie stattdessen mit einem „sozialen G’spür“ ausgestattet werden müssen, um auf einer vertrauensvollen Basis zum Teil ganz neue und ungewohnte Lernprozesse in Gang zu setzen. Ein Prozess, der – wie er meint – trotz der beeindruckenden Laufzeit von mittlerweile mehr als fünf Jahren bis heute nicht abgeschlossen ist.
Das „Projekt Südwind“ der Musikschule Linz
Daran habe ich mich erinnert, als ich vorige Woche einen „Klassik Treffpunkt“ auf Ö1 gehört habe, zu dem Otto Brusatti einige LehrerInnen der größten Musikschule Österreichs in Linz eingeladen hatte. Diese Musikschule hatte 2010 eine Recherche zur Herkunft ihrer SchülerInnen durchgeführt und war – analog der Situation in Nordrhein-Westfalen und daher wenig überraschend – zum Ergebnis gekommen, dass ihr Angebot in erster Linie von jungen Menschen aus eher wohlhabenden und alteingesessenen Linzer Familien in den Bezirken Linz Urfahr und Linz Zentrum wahrgenommen würde, während sich Jugendliche bzw. deren Eltern aus dem Süden, die wesentlich schwierigeren sozialen Bedingungen ausgesetzt sind, davon nicht angesprochen fühlten.
Um diese „institutionelle Einseitigkeit“ wenn schon nicht aufzuheben so doch in Frage zu stellen, startete die Linzer Musikschule jüngst das „Projekt Südwind“, um auf die Kinder (und ihre Familien), die von sich aus nicht auf die Idee kommen würden, eine Musikschule zu besuchen, zuzugehen. In einem ersten Schritt soll das Angebot der Schule in allen südlichen Linzer Volksschulen bekannt gemacht werden. Im Anschluss an den Regelunterricht werden Sing- und Rhythmusstunden angeboten, um „das gemeinschaftliche Musizieren zu intensivieren und ein intensiveres und längeres Interesse am Musikinstrument“ zu fördern.
Geht es nach den ersten Erfahrungsberichten, dann zeigt sich auch in diesem Fall, wie herausfordernd es für die MusiklehrerInnen ist, eine gute und belastungsfähige Kommunikation mit den Kindern und Jugendlichen, die den traditionellen Kanon der Werke, die an der Musikschule gelehrt werden, nicht mit der Muttermilch aufgesogen haben, herzustellen. Viele fühlen sich einfach überfordert, wenn es darum geht, das, was ihnen musikalisch wichtig ist, mit Kindern und/oder ihren Eltern zu verhandeln, wenn diese sich davon nicht angesprochen fühlen.
Musik ist wichtig – eine tragfähige Vertrauensbasis über soziale Grenzen hinweg ist wichtiger
Auch wenn es schon viele Jahre zurückliegt, so erinnere ich mich noch zu gut an meine Zeit als Jugendbetreuer in den Jugendzentren der Stadt Wien ? wie frustrierend es sein kann, wenn die eigenen musikalischen Vorstellungen kraft Autorität nicht quasi automatisch auf Gegenliebe stoßen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, wie wichtig der langsame und mühsame Aufbau eines gegenseitigen Vertrauensverhältnisses ist, das es überhaupt erst möglich gemacht hat, sich da oder dort über die sozialen Grenzen hinweg, über die unterschiedlichen Vorlieben zu verständigen, ohne gleich die eine gegen die andere ausspielen zu müssen. Das war zum Teil harte Arbeit. Aber es war auch eine wunderbare Gelegenheit, in andere kulturelle Erfahrungswelten einzutauchen, zu denen ich ansonsten nie Zugang gefunden hätte.
Was von diesen Erfahrungen bleibt, ist die Vermutung, dass es bei diesen Versuchen der sozialen Grenzüberschreitung gar nicht so sehr um die Vermittlung der einen oder anderen musikalischen Fähigkeit bzw. Technik geht, vielmehr um den Aufbau einer gegenseitigen Akzeptanz und Wertschätzung, die in der aktuellen, von wachsender Ungleichheit geprägten gesellschaftlichen Verfasstheit zunehmend abhanden zu kommen droht. Auf diese Weise gegen den Strom zu schwimmen, kann mitunter sehr anstrengend sein und setzt einen langen Atem voraus. In jedem Fall bedarf es sozialer Neugierde, um sich aus den wohlbehüteten musikalischen Bastionen des Nordens in das kulturelle Neuland des Südens zu begeben; eine Qualifikation, die über die Fähigkeit zu unterrichten weit hinausreicht.
Ganz offensichtlich wissen die Linzer MusiklehrerInnen um diese Herausforderung; entsprechend lassen sie sich auf ein längeres Verfahren ein, das sie mindestens so verändern wird wie ihre SchülerInnen. Das Lied, das die Kinder im Radio über ihr „Projekt Südwind“ gesungen haben, klang noch sehr nach dem traditionellen Liedgut für die 2% aus Kehlen des großen Restes. Ich kann mir vorstellen, dass in den nächsten Jahren aus Linz noch ganz andere Töne auf uns zukommen.
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