Why not in Europe?
Nach einer jüngst veröffentlichten Imas-Untersuchung halten 42% der Befragten die Mitgliedschaft Österreichs bei der EU für schlecht und nur mehr 29% für gut (der große Rest hat keine Meinung abgegeben). Darüber hinaus sind ganz grundsätzlich 31% sind der Ansicht, die Europäer seien „zu unterschiedlich, um zusammenwachsen zu können“.
Dieses Blitzlicht zeigt, wie weit der Stimmungseinbruch zuungunsten des europäischen Projekts bereits gediehen ist und es gibt keine Indizien dafür, dass sich dieser Trend in absehbarer Zeit umkehren könnte. Die täglichen Hiobsbotschaften, die – anhand des Zusammenbruchs der griechischen Wirtschaft inklusive Verelendung weiter Teile der dortigen Bevölkerung – schrumpfenden Nationalökonomien, steigende Arbeitslosigkeit, vor allem unter den jungen Menschen und wachsende Ungleichheit als wahrscheinlichstes Zukunftsszenario auch für den Rest Europas ausmalen, geben wenig Grund zu Optimismus.
Wenn nunmehr selbst Bundeskanzler Werner Faymann, der sich in den letzten Jahren streng an die Vorgaben des Boulevards zwecks Schüren von Europaskepsis gehalten hat, mit pro-europäischen Aussagen auf sich aufmerksam macht, dann erscheint das in der aktuellen Situation in erster Linie als ein Indiz, wie verfahren der Karren bereits sein muss, der angeblich nur gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen ist und doch immer tiefer hineingerät.
Neben Faymann hat sich zuletzt auch ein anderer, vielleicht noch wichtigerer „big player“ zu Wort gemeldet. In seinem neuen Buch Financial Turmoil in Europa and in the United States stellt der altersweise gewordene globale Finanzjongleur George Soros (mit großen Erfahrungen im Spekulieren gegen ganzer Nationalökonomien) eine enge Beziehung zwischen wirtschaftlicher Prosperität und politischer und sozialer Integration her: „Economic deteriorisation and political and social disintegration will mutually reinforce each other“. In seiner Analyse der aktuellen Krisenerscheinungen erinnert er an ein Konstitutiv der Evolution der Europäischen Union, in der sich „booms“ und „busts“ immer wieder abgewechselt hätten; insgesamt ein reflexiver Prozess, wie Soros meint, der „largely driven by mistakes and misconceptions“ gewesen sei.
Als es noch gelang, Mehrheiten für das europäische Projekt zu gewinnen
Boom phases hätte es immer dann gegeben, wenn sich die Europäische Union als ein „fantastic object“ (ein Begriff, den ursprünglich der britische Psychologe David Tuckett eingeführt hat) zur präsentieren vermochte, als ein „unreal but attractive object of desire“, für das sich einzusetzen Mehrheiten zu gewinnen waren. Als ein solches „fantastic object“ identifiziert Soros die Vorstellung einer „open European society“, der er die Qualität einer „association of nations founded on the principles of democracy, human rights, and the rule of law that is not dominated by any nation or nationality“ zuschreibt.
Deutschland, dem in der aktuellen Krisenentwicklung eine entscheidende Führungsrolle zugefallen ist, habe diese Phase in besonderer Weise zu nutzen vermocht: Mit dem Zerfall des Sowjetimperiums hat seine politische Führung rasch erkannt, dass die Wiedervereinigung des Landes unmittelbar mit dem Gelingen einer weiteren europäischen Integration verbunden ist: „Reunification is possible only in a more united Europe“. Deutschland war unmittelbar auf die Unterstützung der anderen politischen Mächte angewiesen und um diese zu erhalten, waren die führenden politischen Entscheidungsträger – jedenfalls damals – zu beträchtlichen Opfern bereit. Das zeigte sich nach außen in einer weitgehenden Aufgabe einer unabhängigen Außenpolitik, die stattdessen zunehmend den Charakter einer europäischen Integrationspolitik annahm.
Das ist nunmehr zwanzig Jahre her, eine lange Zeit, die wenig von der Attraktivität des ehemaligen „fantastic objects“ übrig gelassen hat. Stattdessen wachsen mit der Zunahme mannigfacher Krisenerscheinungen, die seit 2008 zu einer Art Synonym für den Zustand Europas geworden sind, die trennenden und damit renationalistischen Tendenzen, die sich daran gemacht haben, den Fortbestand des europäischen Projektes in Frage stellen.
Ganz offensichtlich ist Europa auf Grund vielfältiger „mistakes and misconceptions“ der politischen Klasse in eine umfassende bust phase eingetreten, aus der herauszutreten es wenig Grund zur Hoffnung gibt. Weit und breit kein mächtiger Zeus in Gestalt eine Stiers in Sicht, der in der Lage wäre, Europa an die Gestade eines neuen Aufbruchs zu bringen. Und so kursieren aller Orten die Gedankenspiele, an denen sich auch Soros beteiligt, die der Europäischen Union wahlweise das Schicksal der auseinanderbrechenden Sowjetunion oder, vielleicht noch schlimmer, des bis heute leidvoll unabgeschlossenen Zerfalls von Jugoslawien voraussagen.
Renationalisierung und Demokratiemüdigkeit
Georg Soros, der mit seiner Open Society Foundation (die sich aus Spekulationsgewinnen in der Größenordnung von 500 – 700 Mio US Dollar speist) mit einer Vielzahl von Programmen dazu beigetragen hat, die Idee einer open society wach zu halten und zu befördern, ist heute bei seinem Engagement mit der wachsenden Bereitschaft bei wachsenden Teilen der Bevölkerung (nicht nur in den postkommunistischen Ländern Europas) konfrontiert, „closed societies“ als ultima ratio der Selbstverteidigung zu akzeptieren.
Die renationalistischen Kräfte können sich auf eine grassierende Demokratiemüdigkeit vor allem unter den KrisenverliererInnen berufen, die sich von den traditionellen Institutionen der repräsentativen Demokratie und ihrer VertreterInnen abgewendet haben (weil sie sie als die Verursacher der Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse identifizieren) und statt dessen mehrheitlich zustimmen, wenn ihre politischen Führer (ob in Berlusconis Italien oder Orbans Ungarn) Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der unveräußerlichen Menschenrechte ihrem unbedingten Führungsanspruch zur vermeintlichen Wiedererringung nationaler Stärke gegen die europäische Idee unterordnen.
Und so scheint der alte Kontinent, der sich nach 1945 dank der Wiederbelebung demokratischer Ansprüche aus dem Ruinen des Zweiten Weltkriegs erhoben hat, einmal mehr nicht nur seine ökonomische sondern auch (gesellschafts-)politische Führungsrolle zur Disposition zu stellen, wenn Soros die Frage stellen kann: „When I look around the world I see people aspiring to open society. I see it in the Arab Spring, in various African countries: I see stirrings in Russia, and as far away as Burma and Malaysia. Why not in Europe?”
Zur Lösung der aktuellen Krise weist Soros der Europäischen Union eine klare Führungsaufgabe zu, die vorrangig in der Entwicklung und Umsetzung entsprechender finanz- und wirtschaftspolitischer Instrumente bestehen. Die unendliche Reihe an „Gipfeln“ der europäischen Staatenlenker, hin- und hergerissen zwischen transnationaler Pragmatik und nationalem Populismus, lässt hoffen, dass es diesen im Letzten doch noch mit Ach und Krach gelingen wird, den „vicious circle in which economic decline and political disintegration reinforce each other“ zu durchbrechen.
Das eigentliche Problem aber liegt jenseits vordergründiger Pragmatik. Seine Lösung hängt von der Fähigkeit ab, aus der aktuellen Talsohle heraus das europäische Projekt nochmals als ein „fantastic object“ zu gestalten; damit als eine wünschenswerte Perspektive, an der sich nicht nur eine kleine Elite von Nutznießern, sondern breite Teile der europäischen Bevölkerung zu orientieren vermag und für die sie auch bereit ist, ihre Stimme zu geben.
Die Rückkehr der Politik und ihre damit einhergehende Beschädigung
Die Architekten des Euro – zur Zeit seiner Einführung die letzte Manifestation einer boom phase in der bisherigen europäischen Geschichte – wussten um seinen unfertigen Charakter. Aber sie hofften, dass die durch ihn gesetzten Fakten stark genug sein würden, die weitere finanz- und wirtschaftspolitische (und damit in der Folge auch sozialpolitische) Integration voranzutreiben. Wir wissen heute, dass sie sich geirrt haben.
Zu groß war der Glaube an die Selbstregulierungsfähigkeit der Märkte. Der Crash von 2008 hat eindrucksvoll das neoliberale Dogma von der prinzipiellen Überlegenheit der Marktkräfte gegenüber der öffentlichen Hand in Frage gestellt. Ohne massive politische Interventionen wäre der Kollaps des Finanzsystems, der als ein Angst-Lust erzeugendes Horrorszenario täglich in den Medien aufs Neue an die Wand gemalt wird, längst eingetreten.
Das klingt nach einer „Rückkehr der Politik“. Und in der Tat, Politik ist heute gefragt wie nie zuvor, etwa wenn es darum geht, durch Verabschiedung diverser Sparpakete zu retten, was zu retten ist. Ein undankbarer Job, der ihr bislang wenig Lob eingebracht hat. Stattdessen wird der Politik die Schuld für etwas angelastet, das sie nicht verursacht, wohl aber zugelassen hat.
Und so entsteht eine paradoxe Situation, deren Bewältigung unmittelbar an die Stärke von Politik gebunden ist. Und doch läuft das Wirksamwerden dieser Stärke in Form konkreter Interventionsformen (Stichwort Sparen und Umverteilen in der Regel von unten nach oben) auf die Unterminierung eben dieser Stärke hinaus. Dies erzeugt einen fundamentalen Widerspruch in der Wahrnehmung von Politik, dessen Bearbeitung die Fähigkeit der meisten politischen Akteure (die sich in ihrer Verunsicherung an symbolische Akte wie der Verkleinerung des Parlaments klammern, um zumindest medial kurzfristig zu punkten) übersteigt. Und so sind die wenigsten VertreterInnen der politischen Klasse bereits völlig überfordert, wenn es um die richtige Wahl der finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen geht, geschweige denn noch in der Lage, ihren Wiedereintritt in die Auseinandersetzung um die Kräfteverhältnisse zwischen Markt und Politik für den Kampf um neue Entscheidungsspielräume zu nutzen.
So erfreulich neue Basisinitiativen wie die „Occupy-Bewegung“ sind, wenn es darum geht, die wachsenden gesellschaftspolitischen Widersprüche sichtbar zu machen, sie sind nicht angetreten, das eigentliche Geschäft der Politik zu betreiben, das darin besteht, ebenso überzeugende wie mehrheitsfähige Perspektiven für eine bessere Gesellschaft zu entwickeln.
Das regierende politische Establishment hat die Entwicklung von möglichen Zukunftsszenarien mittlerweile weitgehend den renationalistischen Kräften überlassen, die überdies den Vorteil für sich haben, sich auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit beziehen zu können. Den politischen Kräften, in deren Hände die Zukunft des europäischen Projektes liegt, scheint weitgehend die konzeptive Luft ausgegangen zu sein. Nirgendwo zeigen sich auch nur die Umrisse einer gemeinsamen europäischen Zukunft, die mehr ist als die Vermeidung einer noch größeren Katastrophe.
Die Rolle von Kunst und Kultur und die Aufrechterhaltung kritischer Öffentlichkeiten
Wo also könnten wir uns auf die Suche nach neuen Gesellschaftsentwürfen zu begeben? Wohl nicht in den Reihen einer zur Zeit regierenden politischen Klasse, die zur Zeit alle Hände voll zu tun hat, noch schlimmeres zu verhindern (damit haben sie genug zu tun). Georg Soros hat im Rahmen seiner Open Society Foundation ein großes Kunst- und Kulturprogramm aufgelegt und begründet seine Entscheidung mit der Fähigkeit von Kunst, das Bestehende zu irritieren. Damit ist die Hoffnung verbunden, zumindest in symbolischer Form den wachsenden Fatalismus angesichts des Niedergangs des europäischen Projekts in Frage zu stellen und stattdessen Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen aufzuzeigen und zu erproben.
Ob es dabei erfolgreich ist, lässt sich im letzten nicht sagen. Wohl aber zeigt sich, dass damit neue Öffentlichkeiten geschaffen werden, in denen die Auseinandersetzung über Fragen transnationaler Demokratie abseits der herrschenden Zwänge möglich ist. Und das ist schon viel in diesen Tagen.
Ob sich darin Ansätze eines neuen „fantastic objects“ für ein „Neues Europa“ erkennen lassen? Schön wärs.
Zur möglichen Rolle von Bildung für einen solchen Ort der Sehnsucht nächstes Mal mehr.
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