Wie weit Schule schon einmal war und was es noch zu tun gilt
Seit nunmehr dreißig Jahren beschäftige ich mich mit der Idee, KünstlerInnen in den schulischen Unterricht einzubeziehen. Ich erinnere mich an die Anfänge des Österreichischen Kultur-Service als eine Vorfeldorganisation des damaligen Unterrichts- und Kunstministeriums. Er wurde Mitte der 1970er Jahre geschaffen, um vor allem einer jungen KünstlerInnen-Generation neue Möglichkeiten der beruflichen Realisierung zu schaffen im Rahmen derer junge Menschen erste Erfahrungen mit dem zeitgenössischen Kunstschaffen abseits der großen Kulturtanker ermöglicht wurden. Die SchülerInnen sollten KomponistInnen, AutorInnen oder bildenden KünstlerInnen über die Schultern schauen können, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was diese konkret machen, wenn sie künstlerisch tätig sind. Die Aktivitäten verstanden sich auch als eine damals neue kulturpolitische Aktionsform, die freien KünstlerInnen im Rahmen von „Dialogveranstaltungen“ zusätzliche, wenn auch nicht regelmäßige Erwerbsmöglichkeiten eröffneten.
Die Gründungsväter rund um den damaligen Unterrichts- und Kunstminister Fred Sinowatz erhofften sich damit – zumindest indirekt – auch bildungspolitische Effekte: Die Mitwirkung von KünstlerInnen sollte mithelfen, das erstarrte Schulsystem zu irritieren und mit ihren Aktivitäten neue Möglichkeitsräume aufzutun. Die teilnehmenden KünstlerInnen sollten als eine Art „Lösungsmittel“ fungieren, um die überkommenen Schulstrukturen zu verflüssigen und damit den Schulalltag zu „versinnlichlichen“, in jedem Fall zu verlebendigen.
„Langeweile ist Gift“
In diesen Tagen ist eine umfassende Biographie der an der German School of European Culture and Languages der University of Kent lehrenden Deborah Holmes zu Eugenie Schwarzwald erschienen. Unter dem Titel „Langeweile ist Gift“ liegt damit eine Kulturgeschichte Österreichs des ersten Drittels des 20. Jahrhundert vor, die deutlich macht, dass Versuche, KünstlerInnen für die Sache der Schulentwicklung zu nutzen, bereits wesentlich früher begonnen haben, als Sinowatz und Co. vermeint haben.
Es war die umtriebige Eugenie Schwarzwald, die bereits in der letzten Phase der Monarchie versucht hat, mit der Gründung von neuen Schulen vor allem jungen Frauen ein ebenso wirksames wie unkonventionelles schulisches Angebot zu machen. Trotz heftigem Widerstand der Schulbürokratie, dem sie trickreich und zuletzt erfolgreich zu begegnen vermochte, wurde sie damit zu einer Vorreiterin der österreichischen Mädchen- und Frauenbildung.
In „ihren Schulen“ ging es nicht darum, den traditionellen Knabenunterricht nunmehr auch auf Mädchen zu übertragen. Stattdessen setzte sie sich – durchaus inspiriert von der aufkommenden Reformpädagogikbewegung – für einen anderen, einen neuen Unterricht ein, bei dem die Beschäftigung mit Kunst eine besondere Rolle spielen sollte.
Ihr Ziel war die Umsetzung einer „schöpferischen Bildung“: Im Rahmen eines individuell abgestimmten Unterrichts sollte die kreative Energie in jedem Kinde freigesetzt werden. Die Schule müsse versuchen, „mindestens die eine Künstlereigenschaft, die alle Kinder besitzen, die Vitalität, zu erwecken und zu erhalten“. Holmes folgend sollte Bildung nicht als Mittel zum Zweck erachtet werden, genauso wenig die Kindheit als vorbereitende Lebensphase, sondern als eine „kostbare Lebenszeit“, die es um ihrer selbst willen zu genießen und zu feiern gälte. Begleitet sollten sie dabei von LehrerInnen werden, die „nicht als Respektspersonen sondern als KünstlerInnen“ agieren sollten, die sich vor allem durch Spontaneität und Originalität auszeichnen.
Um diesbezügliche Lernprozesse anzustoßen, vertraute Schwarzwald auf die Mitwirkung profilierter Künstlerpersönlichkeiten. Als gesellschaftlicher Mittelpunkt der Wiener Gesellschaft war sie mit vielen KünstlerInnen ihrer Zeit eng verbunden, die sie allesamt einlud, am Unterricht in ihren Schulen teilzunehmen. Und so fungierten Adolf Loos, Arnold Schönberg oder Oskar Kokoschka als Lehrkräfte, die die Schülerinnen mit den avantgardistischen künstlerischen Strömungen ihrer Zeit vertraut machten.
Dazu Holmes: „Künstlerische Ausdrucksfähigkeit war ein entscheidender Punkt im inoffiziellen Programm der Schule. Schülerinnen sollten jedoch nicht im etablierten Kanon gedrillt oder zu fügsamen Dilettantinnen herangezogen werden“ – zu lange, so Schwarzwald, hatte die Bildung einer bürgerlichen Frau darin bestanden, eine oberflächliche Kenntnis der Künste und eine mittelmäßige Fähigkeit im Zeichnen, Singen oder Schreiben von Versen zu erwerben. „Stattdessen sollten Empfänglichkeit für die Künste und Kreativität zum täglichen Leben in den Schwarzwald’schen Schulanstalten gehören.“
Die Schwarzwald-Schulen und das Lob der Schülerinnen
Und was haben die Schülerinnen dazu gesagt? Robert Streibel, Direktor der Volkshochschule Wien Hietzing beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Person Eugenie Schwarzwald und ihren Folgen. Dabei hat er auch versucht, die Erfahrungen ehemaliger Schülerinnen zu sammeln, um in einem Beitrag im Spectrum der Tageszeitung Die Presse vom 10. November 2012 festzustellen: „Wer Schülerinnen von ihr getroffen hat, muss wohl zugeben, dass von keiner Schule jemals ein so geschlossenes und einhelliges Lob zu hören war“.
Auch führende Bildungspolitiker der jungen Republik Österreich äußerten sich ähnlich euphorisch. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Schwarzwald-Schulen im Jahre 1926 meinte der Bildungsreformer des Roten Wien Otto Glöckel: „Was heute auf dem Gebiete des Mittelschulwesens schöpferisch wirksam ist, hat zu neun Zehnteln seinen Ausgang von der Schwarzwald-Schule genommen“.
So wenig Eugenie Schwarzwald ihr Milieu der Wiener Bourgeoisie verleugnen wollte (diese war ihr eine wichtige Ressource beim Auftreiben der notwendigen Mitteln für all ihre Initiativen), so sehr war es ihr ein Anliegen, der sich immer weiter vertiefenden sozialen Ungleichheit in der Ersten Republik etwas entgegenzusetzen. Nicht nur Mädchen aus wohlhabendem Haus sollten ihr Angebot nutzen. Sie organisierte vielfältige Aktivitäten, die von Aktionen wie „Wiener Kinder aufs Land“ für unterernährte Jugendliche während und nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu Gemeinschaftsküchen reichten.
Eugenie Schwarzwald stammt als geborene Nussbaum aus der Gegend um Czernowitz. Sie besuchte dort eine Lehrerinnenbildungsanstalt, in der erwartet wurde, dass ihre Absolventinnen zumindest drei Sprachen (Deutsch, Rumänisch und Ukrainisch) unterrichtstauglich sprechen können sollten (was wohl einiges über den Stand der Multilingualität in der ausgehenden Monarchie erzählt). Zum Studium ging sie nach Zürich, wo bereits damals Frauen an der Universität zugelassen waren, bevor sie ihre Arbeit an der Schulreform in Österreich als legendäre „Fraudoktor“ aufnahm. Als solche muss sie über unglaubliche Energien verfügt haben. Vielen wird ihr permanentes „Checkertum“ auf die Nerven gegangen sein. Aber sie vermochte mit ihrer Durchsetzungskraft, ihre Projekte gegen alle Wahrscheinlichkeit zu realisieren. Manes Sperber fand für sie die Bezeichnung „Genie des Daseins“.
Mit all dem sollte 1938 Schluss sein: Gegen die Brutalität der Nazis wusste auch sie als eine assimilierten Jüdin keine Gegenstrategie mehr. Ihre Schulen wurden geschlossen, viele jüdische SchülerInnen flohen mit ihren Eltern ins Ausland; die Wohnung der Schwarzwalds wurde arisiert; sie selbst emigrierte in die Schweiz und starb dort zwei Jahre später.
Über das große Vergessen
Was mir bei der Lektüre von Deborah Holmes Biographie dieser ebenso herausragenden wie widersprüchlichen Persönlichkeit vor allem deutlich wurde, ist der Umstand, dass wir in unserem Bemühen um eine Neubestimmung von Schule und Kunst, damit um einen sinnlich-ästhetisch reichen Unterricht, der die Entwicklung der kreativen Potentiale der SchülerInnen ins Zentrum rückt, uns auf viele, zum Teil vergessene, zum Teil absichtsvoll unterdrückte Vorarbeiten beziehen können.
Dank der Bemühungen von Eugenie Schwarzwald brauchen wir das Rad nicht mehr neu erfinden. Aber wir können gerade in einer Zeit umfassender gesellschaftlicher Amnesie intensiver darüber nachdenken, warum die damaligen Erfolge nicht quasi automatisch dazu geführt haben, nach dem Zweiten Weltkrieg den Unterricht nach den Prinzipien einer „kreativen Bildung“ neu zu gestalten, warum diesbezügliche Unterrichtsformen sich nicht zum Mainstream entwickelt haben und stattdessen bis heute randständig geblieben sind und wer bis heute so großes Interesse (und Einfluss) hat, dass schulischer Unterricht nach wie vor so funktioniert als hätte es Eugenie Schwarzwald und ihre MitstreiterInnen nicht gegeben.
Zumindest zwei Gründe hängen wohl mit den Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes zusammen. Da ist zum einen das gewaltsame Ende der Schwarzwald’schen Schulversuche durch die Nazis selbst, deren Konsequenzen bis heute spürbar sind. In dem Zusammenhang berichtet der bereits erwähnte Robert Streibel in der Tageszeitung Der Standard mit dem Titel „Die zweite Vertreibung der Eugenie Schwarzwald“ von einer kuriosen Kontroverse, wonach die Jüdin Schwarzwald einmal in einem privaten Brief eine antisemitische Bemerkung gemacht hat. Dieser Umstand bewegt die Israelitische Kultusgemeinde zusammen mit der konservativen Bezirksvorsteherin des ersten Wiener Bezirkes Ursula Stenzel in diesen Tagen dazu, das Anbringen einer Gedenktafel am ehemaligen Standort ihrer Schule in der Herrengasse eine Gedenktafel zu verhindern. Die politische Botschaft also lautet: Eugenie Schwarzwald und ihr bildungspolitisches Wirken muss vergessen bleiben.
Das zweite Problem mag darin liegen, dass sich Teile der Reformpädagogik nicht immun gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie erwiesen haben. Aus deutscher Sicht hat dazu zuletzt Anne C. Bagel mit ihrem Buch: „Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945“ neue Erkenntnisse beigesteuert. Bereits einige Jahre früher haben Barbara und Wolfgang Feller das Thema in „Die Adolf-Hitler-Schulen: Pädagogische Provinz versus ideologische Zuchtanstalt“ dazu gearbeitet. Die Erkenntnisse machen zumindest verständlich, warum die Versuche einer Wiederaufnahme reformpädagogischer Unterrichtspraktiken nach 1945 pauschal als einer totalitären Ideologie verpflichtet und damit nicht demokratietauglich abgewertet werden konnten, um sich stattdessen auf den Wiederaufbau der traditionellen Schulstrukturen zu konzentrieren.
Ein dritter Grund hat mit der Fortdauer der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu tun und erzählt von den institutionellen Zwängen unseres überkommenen Schulsystems, das auch die kulturpolitischen Bemühungen seit den 1970er Jahren in den Grundfesten nicht haben erschüttern können. Ganz offensichtlich haben noch immer diejenigen die Oberhand, die Vorteile aus dem Umstand ziehen, dass sich nichts grundsätzlich ändert. Die bildungspolitischen Diskussionen dieser Tage legen dazu ein mehr als beredtes Zeugnis ab.
Die nunmehr erschiene Biographie von Eugenie Schwarzwald erinnert daran, dass die Ansprüche an Schulentwicklung vor hundert Jahren weiter waren, als wir es uns heute vorstellen können. Und sie erinnert auch daran, dass Erfolge keine Dauerhaftigkeit beanspruchen können, sondern immer wieder aufs Neue errungen werden müssen.
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