Wir alle müssen nach Reims zurückkehren
Es gibt eine Schwarz-Weiß-Fotografie von mir als zehnjährigem Jungen. An einem Rechen gelehnt stehe ich mit meinen Großeltern vor ihrem Schrebergartenhaus am Rande von Wien. Die Kamera (meines Vaters?) fängt die ganze Ärmlichkeit der Lebensverhältnisse ein: Meine Großeltern lebten weitgehend unter Subsistenz-Bedingungen: d.h. die Früchte des Gartens bildeten die ganzjährige Grundversorgung; im Winter musste das Wasser von einem Wasserhahn in einer anderen Siedlung geholt werden; am Abend brannte eine 15 Watt Lampe und im Winter ließ mich eine Wärmeflasche die beißende Kälte des unbeheizten Schlafraums beim Einschlafen aushalten.
Meine Großeltern lernten sich als sogenannte „Bettgeher“ in Wien kennen. Als junge Berufstätige aus kleinen Dörfern in Oberösterreich bzw. dem Burgenland in die Hauptstadt zugewandert, reichte ihr Wochenlohn nicht aus, um ein eigenes Zimmer zu mieten; stattdessen teilten sie sich wie viele ihrer AltersgenossInnen ein Bett, die einen schliefen darin untertags, die anderen in der Nacht. Als sie später in der Lage waren, sich eine eigene Wohnung zu mieten, wurde das Mietshaus im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Sie fanden Zuflucht in einer Schrebergartensiedlung, die sie bis zu ihrem Tod bewohnen sollten. Für mich war der Garten ein besonderer Ort der Liebe und Geborgenheit; ich durfte an ihrem streng geregelten Alltag teilnehmen und beim Umgraben, Pflanzen, Gießen, Ernten oder Einrexen mithelfen. Und natürlich auch beim Essen und beim Feiern.
Dabei erwies sich meine Großmutter als eine fast schon bigotte Gläubige, die es sich nicht nehmen ließ, jedes Jahr einen der Altäre für den Fronleichnamszug samt überquellendem Blumenschmuck zu errichten, während sich mein Großvater auf die Rolle des Mesners in der benachbarten „Kapelle“ konzentrierte, um bei der Sonntagsmesse nach den Fürbitten den Gläubigen mit dem Klingelbeutel ihre Spenden abzunehmen. Dass er auf dem Heimweg noch einen kleinen Umweg machte, um in der nahen Trafik die Sonntagsausgabe der Arbeiter-Zeitung zu kaufen, während die Großmutter das Frühstück für uns nüchterne Kirchgänger auf dem Petroleumkocher zubereitete, sollte mich erst viel später wundern.
Über die Mühen des Sozialverrats
Diese Erinnerungen zu meiner eigenen Kindheit überkamen mich bei der Lektüre von Didier Eribons soziologisch kommentierter Autobiographie „Rückkehr nach Reims“. Eribon schildert darin seinen Versuch, sich – mit fast allen Mitteln – aus der Enge der Verhältnisse einer typischen Arbeiterfamilie am Rande von Reims zu befreien, um am Ende zu erkennen, dass ihn diese einholen, ob er will oder nicht. Den äußeren Anlass bildet der Tod des Vaters, zu dem er nach seinen verzweifelten Ausbruchsversuchen aus seinem Herkunftsmilieu zu dessen Lebzeiten keinerlei Kontakt mehr gepflegt hatte. Nun kehrt Eribon – kraft seiner Unbeugsamkeit zu einem Mitglied der intellektuellen Elite Frankreichs geworden – zu seiner Mutter zurück und lädt uns zu einer Reihe von sehr unbequemen Überlegungen ein, die wir selbst, irgendwie in der Mitte der Gesellschaft angelangt, nur sehr schwer aushalten können.
Da ist zum einen der schiere Umstand, dass es dem Arbeiterkind Didier Eribon mehr als schwer gemacht worden ist, den mit seiner Geburt zugeschriebenen Platz zu verlassen und zu neuen Ufern aufzubrechen. In seinen Schilderungen scheint es fast so, als habe er es vor allem seiner homosexuellen Orientierung zu verdanken, dass er sich den rigiden Normierungen der traditionellen Arbeiterfamilie zu entziehen vermochte, freilich um den Preis der weitgehenden Ausgrenzung und Isolierung von seinem Ursprungsmilieu.
Was ich seinen eindrücklichen Schilderungen der eigenen elenden Familienverhältnisse entnehme, ist die Stärke der affektiven Bindung, die uns dazu zwingt, mit dem, was ist, vorliebzunehmen und uns unter permanenter Androhung des Liebesentzugs vermeiden lässt, es auch nur zu versuchen, uns über sie hinwegzusetzen. Eribon ist dies – mit Hilfe fast schon gewaltsamer Anstrengungen – gelungen; davon gänzlich unabhängig machen, konnte er sich als mittlerweile führender Vertreter der französischen Soziologenszene dennoch nicht.
Wie aus Linken Rechte werden
Eribon kennt die Geschichte des politischen Denkens seiner Herkunftsfamilie aus eigener Anschauung. Entsprechend kann ich seiner Antwort auf die Frage, wie es möglich sein kann, dass sein Milieu, dem als linke Opposition die längste Zeit bewusst war, dass es einem sie benachteiligenden Herrschaftssystem ausgeliefert war, drauf und dran ist, der Rechten ihre Stimme zu geben, viel abgewinnen. Einen Teil seines Buches, der sich mit dieser Frage beschäftigt, hat er unter dem Titel „Wie aus Linken Rechte werden“ in den Blättern für deutsche und internationale Politik in den Ausgaben 8’16 und 9’16 gewidmet.
Sein Ausgangspunkt ist dabei die Erinnerung, dass noch vor 50 Jahren sein Milieu – bei aller Depravation der Lebensverhältnisse – über ein politisches und damit ein spezifisches Klassenbewusstsein verfügt habe: „In meiner Kindheit ist meine gesamte Familie ,kommunistisch‘ gewesen, und zwar in dem Sinn, dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmt hat.“
Wie aber – so seine drängende Frage – konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählen sollte und dies sogar manchmal als die „natürliche“ Wahl empfunden wurde? Eribons Erklärung eines solchen kategorialen Umschwungs der politischen Einstellungen, vor allem derer am unteren Ende der sozialen Hierarchie, läuft auf einen umfassenden Verrat der politischen Eliten hinaus, die aufgrund ihrer eigenen Erfolgsgeschichten dazu verführt wurden, die Vertretung der Partikularinteressen derer, die das bestehende Herrschaftssystem bis heute unterdrückt und benachteiligt, aufzugeben:
Die sozialistische Linke unterzog sich einer radikalen, von Jahr zu Jahr deutlicher werdenden Verwandlung und ließ sich mit fragwürdiger Begeisterung auf neokonservative Intellektuelle ein, die sich unter dem Vorwand der geistigen Erneuerung daran machten, den Wesenskern der Linken zu entleeren. Es kam zu einer regelrechten Metamorphose des Ethos und der intellektuellen Koordinaten. Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von „notwendigen Reformen“ und einer „Umgestaltung‘“ der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern vom „Zusammenleben“ und „Eigenverantwortung“.
Heute lassen sich für einen solchen „politischen Verrat“ auch aus österreichischer Sicht eine Reihe von Belegen nennen. Vordergründig liegen sie in einer sozialdemokratischen Ideologie der 1970er Jahre, wonach die Linke – einmal an die Macht gekommen – in der Lage wäre, die bestehenden Klassenunterschiede ein für alle Mal aufzuheben und stattdessen auch die bislang unterdrückten Schichten im Rahmen einer umfassenden gesellschaftspolitischen Reformagenda sukzessive in das Mittelstandsmilieu zu integrieren. Ein solches sollte künftig als Zusammenschluss gleichberechtigter Individuen über die überkommenen partikularen Klasseninteressen hinweg das politische Geschehen bestimmen.
Eine darauf basierende sozialdemokratische Reformagende hat es einer Reihe von Personen erlaubt, ihr angestammtes Milieu zu verlassen, um bislang für unerreichbar geltende Positionen einzunehmen. Der Preis dafür war es, künftig seine Herkunft als Mitglied einer unterdrückten Klasse zu negieren und sich mit allen nur denkbaren Mitteln gegenüber den Lebensumständen, denen man entkommen zu sein meinte, abzugrenzen. Es ist Eribons schonungsloser Offenlegung seiner eigenen Herkunftsbeziehungen zu verdanken, um zu erkennen, dass sich darauf basierende Hoffnungen nur in der Bereitschaft einlösen lassen, die Wertvorstellungen der Verursacher von Herrschaft und Unterdrückung zu übernehmen, was gleichbedeutend ist mit der Bereitschaft, die eigene Herkunft zu verraten.
Der politische Versuch allgemeiner Vermittelständigung ist fehlgeschlagen
Es zeigt sich – fast schon paradigmatisch am österreichischen Beispiel –, dass dem österreichischen Kulturbetrieb im Verlauf dieses „politischen Verrats“ eine besondere Bedeutung zukommt. Immerhin versteht sich der Slogan „Kultur für alle“, der die Kulturpolitik seit den 1970er Jahren bestimmt, in besonderer Weise als Vehikel zur Überwindung überkommener Klassengegensätze: Seit den 1970er Jahren dominiert eine kulturpolitische Ideologie, wonach in der gemeinsamen Anschauung des Wahren, Guten und Schönen alle ungeachtet ihrer sozialen Herkunft zusammenfinden und sich an den Orten des kulturellen Geschehens als gleichberechtigte Individuen erleben können.
Alle verfügbaren Daten zeigen, dass die Menschen diesen kulturpolitischen Zurufen zur Überwindung von Klassenschranken per Inanspruchnahme unterschiedlicher kultureller Angebote bislang nicht gefolgt sind. Daran ändert auch der Umstand aktueller Verklärungsversuche von „kultureller Diversität“ nur wenig, zumal bei genauerem Hinsehen die Tendenz zu ethnisch-kulturellen Politikformen die zunehmend unvermittelt auseinanderklaffenden sozialen Unterschiede immer weniger zu kaschieren vermag. Die jüngste Bestellung eines führenden Managers des etablierten Kulturbetriebs zum Kunst- und Kulturminister könnte so auch als weiterer Beleg für eine kulturpolitisch verbrämte Verratsgeschichte gelesen werden, die darauf hinaus läuft, dass die führenden sozialdemokratischen Funktionäre schlicht keine Ahnung mehr davon haben (wollen), wie der Alltag derer, die das Milieu bilden, aus dem sie selbst gekommen sind, ausschaut und welcher kulturpolitischer Maßnahmen es, wenn überhaupt bedürfte, um deren Lage zu verbessern.
Dies ist umso bedauerlicher als den ehemals linken kulturpolitischen Funktionären die Fähigkeit zur politischen Analyse abhandengekommen zu sein scheint. So hätten sie erkennen können, dass der Anspruch auf eine breitenwirksame Vermittelständigung nicht aufgegangen ist. Stattdessen bricht nicht nur die österreichische Gesellschaft anhand überkommen geglaubter sozialer Gegensätze wieder unvermittelt auseinander und produziert überwunden geglaubte politische Widersprüche, auf die die etablierte Politik weitgehend unvorbereitet ist.
Und so stehen die Versatzstücke einer überkommenen kulturellen Infrastruktur unvermittelt vor dem Problem, dass heute die Grundannahmen ihrer kulturpolitischen Legitimation außer Kraft gesetzt sind, wenn sie sich ungebrochen an einem allgemein verbindlichen, und weitgehend entpolitisierten Mittelstandsideal orientieren, während in allen anderen Teilen der Gesellschaft die Renaissance einer Klassengesellschaft droht. Eribons Provokation in diesem Zusammenhang besteht vor allem in seiner eigenen Wahrnehmung, wie schwer es ist, die kulturellen Wertvorstellungen des eigenen Milieus zu überwinden, ohne als „Verräter“, der sich für etwas Besseres halten würde, stigmatisiert zu werden. Meinen eigenen Beobachtungen folgend, sind sich die meisten, in Kultureinrichten arbeitenden Menschen, schon auf Grund ihrer eigenen mittelständischen Herkunft, der existenziellen Wirkungen von Herkunft überhaupt nicht bewusst, geschweige denn, dass sie bereit wären, für die Partei zu ergreifen, die auf immer neue Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. In dem Maße aber, in dem Kunst- und KulturvermittlerInnen das nicht tun, tragen sie nolens volens zur Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bei.
Die Klasse der Deklassierten hat ihre Führung verloren
Es ist nur ein Indiz, wenn der deutsche Historiker Christoph Bartmann in seinem jüngsten Buch „Die Rückkehr der Diener“ von einer Renaissance feudaler Verhältnisse spricht. Vieles mehr deutet darauf hin, dass im Rahmen der aktuellen gesellschaftspolitischen Radikalisierungen eine Klasse der Unterdrückten und Beherrschten im Begriff ist, zu entstehen. Der wesentliche Unterschied zur Hochzeit der Klassengesellschaft des 20. Jahrhunderts besteht in der weitgehenden politischen Führungslosigkeit dieser Klasse. Eribon schildert anhand seiner eigenen Familienverhältnisse eindrücklich die rassistischen Dispositionen, die vor allem männliche Arbeiter bereits vor 50 Jahren im Umgang mit den „Anderen“ ausgezeichnet hätten. Zugleich macht er deutlich, dass diesen Abwertungsversuchen im internen Gespräch eine politische Führung entgegen gestanden sei, die es verunmöglicht habe, im Anspruch der Mitwirkung an einer führenden Kraft zur Veränderung der ungerechten politischen Verhältnisse eine allgemeine Stimmung der Fremdenfeindlichkeit aufkommen zu lassen. Man habe sich einfach im Generalanspruch auf Solidarität nicht getraut, öffentlich gegen „die Fremden“ aufzutreten und sich stattdessen mit den gleichfalls ausgebeuteten AusländerInnen gegen den Klassenfeind verbündet.
Das so entstandene Vakuum zwischen jenen, die es – scheinbar – geschafft haben, ihr Milieu zu überwinden und jenen, die immer weniger Möglichkeiten sehen, es ihnen gleichzutun, erscheint als ideales Agitationsfeld für einen rechten Führungsanspruch, dessen NLP-geschulte PropagandistInnen sich bestehender Räsonnements virtuos zu bedienen wissen. Wenn es nicht mehr möglich ist, der eigenen depravierten Stellung einen adäquaten politischen Anspruch abzuringen, dann bleibt es eben einer rechtspopulistischen Clique vorbehalten, den wachsenden Frustrationen weitgehend vorbehaltlos, weil politisch ungeleitet, einen, wenn auch negativen Ausdruck zu geben. So gelingt es, die Schuld an der eigenen Misere nicht dort zu verorten, wo sie – nach mühsamer politischer Analyse – zu finden ist, sondern dort, wo es am leichtesten geht und damit bei jenen, die die aktuellen Unterdrückungsstrategien auf ganz ähnliche Weise zu erleiden haben, aber sich durch Sprache, Hautfarbe oder sexueller Orientierung unterscheidbar machen.
Vor ein paar Tagen bin ich wieder einmal um 6 Uhr morgens mit der Schnellbahn Richtung Schwechat gefahren. Ich habe die Menschen, die das jeden Tag tun, müde, blutleer, ohne jede Erwartung und zugemüllt von den neuesten Sensationen der Gratiszeitung „Österreich“. Mir ist unmittelbar bewusst geworden, dass es für diese Menschen keine politische Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lage gibt. Sie müssen froh sein, dass es (noch) so ist, wie es ist. Sie können sich aber auch dem sich gerade neu formierenden „historischen Block“ aus SystemgegnerInnen anschließen, um so ihrem Hass gegen „die da oben“, die sie verraten haben, Ausdruck zu geben: Das ist das Kapital, mit dem die Rechtsradikalen zurzeit haltlos wuchern können.
Und keiner weit und breit, der bereit wäre, nach Reims zurückzukehren.
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