Zu den Wirkungen kultureller Bildung
Es geschah jüngst bei einer Diskussion zur Bedeutung kultureller Bildung in Essen: Die Runde kam bald auf die Wirkung kultureller Bildungsmaßnahmen zu sprechen. Die Rede war davon, dass die Wissenschaft längst nachgewiesen hätte, welch vielfältig positiven Effekte für junge Menschen damit ermöglicht würden: Sie reichten von der Förderung der umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und der Lernmotivation über die Verbesserung des Lernklimas und des sozialen Zusammenhalts, der Dynamisierung von Schulentwicklung und der Neupositionierung kultureller Einrichtungen in der Gesellschaft bis zur Realisierung neuer Chancen am Arbeitsmarkt. Ein vertieftes Verständnis dessen, was als Kunst verhandelt wird, ist sei im Vergleich dazu nur mehr ein nettes Zubrot.
Auf der Grundlage einer solch breiten Palette ebenso wissenschaftlich bestätigter wie erfreulicher Wirkungsaussichten bleibt freilich das Problem, dass diese Erkenntnisse außerhalb des engen Zirkels der Verfechter von kultureller Bildung ganz offensichtlich nicht hinreichend zur Kenntnis genommen werden. Ansonsten ist es nur schwer verständlich, warum kulturelle Bildung nicht schon längst ins Zentrum jeglicher Bildungsmaßnahmen gerückt ist, um so den SchülerInnen bestmögliche Lernvoraussetzung zu verschaffen.
Da nicht von vornherein anzunehmen ist, dass es sich bei allen, nicht unmittelbar mit kultureller Bildung Befassten um fundamentalistische Verweigerer oder zumindest verständnislose Idioten handelt, müssen die Gründe für diese Nichtberücksichtigung tiefer liegen. Als einen davon machte die Runde die umfassende Nutzenorientierung der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit aus, die allem, was mit Kunst und Kultur assoziiert würde, von Haus aus schlechtere Karten zuweisen würde.
Und so wurden wir darauf verwiesen, dass es in den deutschsprachigen Ländern eine lange Tradition gibt, die auf immer wieder neue Weise versucht, „KunstundKultur“ den herrschenden Verwertungslogiken zu entziehen. Ihr besondere Qualität bestünde ja gerade darin, sich nicht beliebig verwerten zu lassen; statt dessen gälte es, auf ihrem Alleinstellungsmerkmal zu beharren, um sich so gegenüber allen anderen Bereichen hinlänglich abzugrenzen (entsprechend könnten ihr auch keine eindeutig nachvollziehbaren Wirkungen zugeordnet werden).
Englische BetreiberInnen kultureller Bildungsaktivitäten haben da ganz offensichtlich viel weniger Berührungsängste. Das wurde an der Ausrichtung von Programmen wie Creative Partnerships deutlich, mit denen die angewählte Labour-Regierung die Hoffnung verbunden hat, eine neue Generation von Fachkräften für den boomenden Sektor der Creative Industries zu rekrutieren.
Unsere Diskussion wurde dort besonders ergiebig, als eine Kollegin auf den anhaltenden Klassencharakter der britischen Gesellschaft hinwies. Immerhin verweise der Anspruch der prinzipiellen Nutzlosigkeit von „KunstundKultur“ auf eine mittelständische Attitüde, die sich eine solche auch leisten kann, während dessen für diejenigen, die jeden Tag aufs Neue ums Überleben kämpfen müssen, die Nutzenerwartung auf viel dringlichere Weise auf ihr Recht pocht.
Der Blick in die Geschichte macht sicher, wenn es einem Bürgertum erst vor gar nicht so langer Zeit gelang, den universellen Nutzenanspruch ihrer Lebensäußerungen zu zivilisieren. Auf der Basis sollte ein bis heute gehegt Reservat errichtet werden, in dem sie sich den Luxus leisten durften, die Verwertungslogik zumindest temporär außer Kraft zu setzen.
Die Grundlage dafür schuf ihnen ein (heute in der Regel staatlich getragener) Kulturbetrieb, mit dem sie die durchaus politisch gemeinte Überzeugung verbanden, dass es – nach Verrichtung der täglichen Geschäfte – etwas gab, dessen Zweck sie – und sei es nur für einen Augenblick – dem Nutzenargument entheben könnte. Dieser Glaube – dann was anderes als eine Form säkularisierter Religionsausübung ist die Teilnahme am bürgerlichen Kulturbetrieb – setzt in der Regel eine privilegierte gesellschaftliche Stellung voraus. Das aber bedeutet: Man muss sich „KunstundKultur“ und die an sie gebundene Ideologie seiner „Nutzlosigkeit“ leisten können. Und wenn man das kann, vermag man als Surplus daraus auch noch soziale Distinktionsgewinne zu ziehen.
Ganz anders bei all denjenigen, für die sich „KunstundKultur“ in diesem umfassenden Sinn nicht amortisiert bzw. die nicht gelernt haben, die damit verbundenen Wertvorstellungen mitzutragen. All diejenigen, in die sich die Frage „Was bringt mir das?“ als allgegenwärtiger Maßstab in all ihre Lebensäußerungen eingefressen hat, werden in der Ausklammerung eines Nutzenanspruches fürs Erste keinen spezifischen Wert erkennen. Ganz im Gegenteil: Ihnen muss die Verweigerung eines hinlänglichen, tunlichst sofort erfahrbaren Nutzens weniger als eine Bereicherung ihres Lebens als vielmehr eine weitere Bestätigung ihrer gesellschaftlichen Zurückweisung erscheinen.
Es war wahrscheinlich ein kluger Schachzug der Labour-Regierung, mit der Implementierung ihrer kulturellen Bildungsprogramme eine klar nachvollziehbare (und darüber hinaus sehr erstrebenswerten) Nutzenerwartung zu verbinden: Den TeilnehmerInnen wurde nicht mehr und nicht weniger versprochen als ihre Chancen am Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern zu wollen (begleitend dazu wurden eine Reihe von Studien angefertigt, die das Versprechen auf Verbesserung der individuellen Lebensaussichtung zu untermauern trachteten). Durchaus in Kauf genommen wurde, dass die Mittelschichten als TrägerInnen des Kulturbetriebs seine zunehmende „Vernutzung“ beklagten, die die von ihnen verteidigte Verortung von „KunstundKultur“ im vermeintlich nutzenfreien „Reich der Freiheit“ untergraben würde.
Ganz offensichtlich wusste die konservativ-liberale Nachfolgeregierung um den ideologischen Gehalt dieser beeindruckenden Palette kultureller Bildungsprogramme, die da die letzten zehn Jahre von Großbritannien aus über ganz Europa ausgestrahlt hat.
Und so beendeten die neuen Machtträger – im Übrigen allesamt Mitglieder der britischen Oberschicht und damit kulturell höchst gebildet – diese Nutzen basierten Programme von einem Tag auf den anderen. Ihre Entscheidungen waren wohl weniger vom Zwang zu unabdingbaren Einsparungen geprägt (im Vergleich zu anderen Budgetpositionen allemal Peanuts) als von ihren Vorstellungen eines „kulturellen Normalbetriebs“, der von der gesellschaftlichen Klasse getragen wird, die diese Wertschätzung auf Grund ihrer sozialen Stellung bereits mit der Muttermilch eingeflößt bekommen hat. Der große Rest wurde zur unmittelbaren kulturellen Bedürfnisbefriedigung wieder auf den Nutzwert marktkonformer Kulturgüter verwiesen.
Jetzt werden sie sagen, dass sich der nach wie vor offensichtliche Klassencharakter der englischen Gesellschaft nicht eins zu eins auf Mitteleuropa übertragen ließe. Zu sehr hätten sich hierorts die gesellschaftlichen Schranken verflüssigt und so zu einem pluralistischen, allen gleichermaßen zur Verfügung stehenden Kunst- und Kulturangebot geführt.
Mag sein: Und doch haben wir in der Runde zu zweifeln begonnen, ob es – auch auf Grund der sich immer weiter verschärfenden sozialen Gegensätze und Spannungen in Deutschland und Österreich – so einfach möglich ist, sich seine soziale Naivität zu bewahren, wenn es um Art, Umfang, Reichweite und Begründung kultureller Bildungsprogramme geht. Aus institutioneller Sicht mag es genügen, die jeweiligen Marketingmaßnahmen weiter zu verfeinern, um möglichst punktgenau die umworbene Zielgruppe für sein Angebot zu gewinnen. Aus bildungs- und kulturpolitischer Sicht hingegen macht der Fall England klar, das kulturelle Bildungsmaßnahmen mehr als bisher das jeweilige soziale Umfeld seiner potentiellen AdressatInnen in den Blick nehmen wird müssen, um auf Grundlage darauf basierender Einschätzungen die Wirkungsabsichten klar zu benennen.
Kulturelle Bildung ist ein riesiges Feld mit einer unüberblickbaren Vielzahl unterschiedlicher Akteure, Maßnahmen und Ziele. Sie alle auf einen Nenner zu bringen, erscheint heute weniger denn je möglich. Der bis dato dominierende Ausweg lag darin, all ihren Formen per se positive Wirkungen zuzuschreiben. Und schon sind wir bei obigem Katalog, dessen Schwäche darin liegt, dass ihn außerhalb des unmittelbaren Fachbereichs ganz offensichtlich niemand ernst nimmt.
Der andere Ausweg hat damit zu tun, in der Rede klarer, spezifischer (und da und dort wohl auch bescheidener) zu werden, um Wirkungsabsichten und damit verbunden Nutzenerwartungen möglichst nachvollziehbar (und damit auch überprüfbar) zu benennen und in der Folge auch zielgerichtet umzusetzen. Spätestens dann wird sich rasch zeigen, dass die englischen Verhältnisse auch in Mitteleuropa nicht völlig überwunden sind, dass es auch hier, durchaus konfligierende Interessen gibt, die es als politischer Kontext mitzuberücksichtigen gilt, wenn Maßnahmen kultureller Bildung ihre Ziele nicht von vorne herein verfehlen sollen.
Weite Teile der kulturellen Bildung haben lange Zeit gemeint, sich in naiver Weise über die spezifischen politischen Rahmenbedingungen hinwegsetzen zu können, in denen sie ihre Tätigkeiten entfalten. Mehr oder weniger bewusst haben sie damit einen sehr traditionellen Kulturbegriff bedient, der vermeint hat, sich jenseits spezifischer Interessen verorten zu können (um auf dem Hochsitz der Kultur die anderen gesellschaftlichen Bereiche wie Politik oder Wirtschaft pauschal als ignorant denunzieren zu können). Dass eine solche Überhöhung der Kultur nur denen nutzt, die es sich immer schon leisten konnten, ihre Nutzlosigkeit zu propagieren, zeigt ein kurzer Blick in die kulturpolitische Vergangenheit.
Ein immer größerer Anteil der Bevölkerung hingegen, der sich täglich neu als nutzlos erfährt, wird wissen wollen, welchen konkreten Nutzen er von künftigen Maßnahmen kultureller Bildung erwarten darf. Wenn wir darauf keine guten Antworten haben, sollten wir es lassen und den Erkenntnisgewinn darauf beschränken, uns als mittelschichtige Kulturobsessive (die wollen, dass möglichst alle so werden wie sie, im Wissen, dass dieser Wunsch ohnehin nie in Erfüllung gehen kann) in unserer eigenen Nutzlosigkeit zu erkennen geben.
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