Zwischen Herumirren und Abseitsstehen
2012 war EDUCULT eingeladen, eine Evaluierung des Kunst- und Kulturprogramms des von George Soros betriebenen Open Society Institutes vorzunehmen. Das Unternehmen führte mich u.a. nach Kirgistan und Kasachstan, damit in Länder Zentral-Asiens, über die ich zugegeben bislang kaum etwas wusste. Unverständlich eigentlich, ähnelt die grandiose Landschaft Kirgistans doch in vielem der Österreichs (was es mittlerweile zu einem Wanderparadies für Touristen aus aller Welt macht) und Kasachstan ist immerhin der neuntgrößte Flächenstaat der Erde; aus der Sicht des bornierten Mitteleuropäers handelt es sich – geographische Zentralität im Herzen Asiens hin oder her – um einen peripheren Ort, der bestenfalls anhand der dubiosen Todesumstände des Schwiegersohns des Präsidenten Nursultan Nasarbajew Rachat Alijew in einem Wiener Gefängnis ins öffentliche Bewusstsein rückt.
Peripherie als Ausdruck einer Suchbewegung
Das mit der Bezeichnung „Peripherie“ ist so eine Sache. In meinem Fall steht sie wohl zuallererst als Ausdruck für eine mehr oder weniger typische Unkenntnis eines Österreichers und damit dessen erziehungsbedingte und doch selbstverschuldete Ignoranz. Die ursprüngliche, aus dem Griechischen stammende Wortbedeutung erzählt von einer Suchbewegung, meint ein mehr oder weniger absichtsloses „Herumtragen“ bzw. ein „Sich Herumdrehen“. Erst ein späterer Sprachgebrauch verweist auf örtliche Gegebenheiten oder auch inhaltliche Sachverhalte, die dadurch charakterisiert sind, dass sie für den Sprecher außerhalb eines Kernbereichs stehen. „Peripherie“ verweist damit auf etwas, das sich am Rand von etwas anderem befindet, nicht mehr auf eine Umgehung, sondern auf eine Umgebung von etwas anderem. Der Begriff der „Peripherie“ kommt also ohne ein vordefiniertes Gegenüber nicht aus. Es braucht ein Zentrum, ohne dieses sein Umfeld bzw. sein Rand erst gar nicht gedacht werden kann. Mit dieser Verschiebung wird auch klar, dass die schiere Wortverwendung „Peripherie“ gar keinen Sinn ergibt. Es ist immer das Zentrum, dessen SprecherInnen darüber verfügen, was mit dieser oder jener mit dem Begriff der „Peripherie“ – und sei es mitten in Zentral-Asien – bezeichnet werden will.
Symposium „Peripherie.Macht.Kulturpolitik“ am 22.4. im Heiligenkreuzer Hof in Wien
Diese Überlegungen bildeten die Ausgangspunkt für die Vorbereitung eines internationalen kulturpolitischen Symposiums „Peripherie.Macht.Kulturpolitik“, das am 22. April im Heiligenkreuzer Hof der Universität für angewandte Kunst in Wien stattfinden wird. Es ist diese die logische Fortsetzung einer Veranstaltung im Vorjahr, die sich mit der wachsenden kulturpolitischen Bedeutung von Städten und damit verbundenen Zentralisierungstendenzen beschäftigt hat. Offen blieb damals die Frage, was mit all dem passiert, was außerhalb dieser Zentren stattfindet bzw. ob wachsende Zentralisierung eines Teils der Welt eine ebenso wachsende Peripherisierung des anderen mit sich bringt und wenn ja, welche Antworten Kulturpolitik darauf hat.
Zentrum ist ohne Peripherie nicht zu haben – und umgekehrt
Dem Befund des US-amerikanischen Sozialhistorikers Immanuel Wallerstein – insbesondere seiner Analyse des Weltsystems nach – ist die Vorstellung von „Peripherie“ eng auf einen hegemonialen Zusammenhang bezogen. Ausgangspunkt ist ihm eine Dependenztheorie, wonach „Peripherie“ nicht für sich stehen kann, sondern sich nur als ein notwendiges Komplement jeglicher Zentrumsentwicklungen erschließt. Damit befinden sich Peripherien in einer asymmetrischen Abhängigkeit zu den Orten, die sie definieren. Entsprechend bedarf es großer (kultur-)politischer Anstrengungen, um aus den damit verbundenen (in der Regel) externen Zuschreibungen auszubrechen (In diesem Zusammenhang sei an das aktuelle Verhältnis eines starken Deutschlands als europäischem Zentrum und Griechenlands – das im Übrigen politisch in 13 Peripherien organisiert ist – als sein peripheres Komplement samt der Unmöglichkeit, dieser ungleichen Rollenverteilung zu entkommen, erinnert).
Mir wurde dieser Umstand unmittelbar bewusst, als ich in Zentralasien die nach wie vor dominanten Reste einer sowjetischen kulturellen Infrastruktur vorgefunden habe, die ursprünglich darauf gerichtet waren, eine vorrangig nomadische Bevölkerung in Form von Opernhäusern, Theatern und Museen auf einen modernen europäischen Kulturbegriff zu verpflichten. Diese manifesten kulturellen Kolonisierungsversuche machen es einer jungen Generation von KünstlerInnen selbst nach dem Niedergang des sowjetischen Imperiums bis heute schwer, zu „eigenen“ künstlerischen Aussagen zu kommen, die über staatlich primär geförderte, nostalgische Rekonstruktionsversuche einer vermeintlich autochthonen Folklore hinausweisen würden.
Modernität als Synonym für die Aufspaltung der Welt in herrschende Zentren und beherrschte Peripherien?
Meine Vermutung geht in die Richtung, dass Vorstellungen von „Modernität“ nach wie vor eine wichtige Triebkraft wachsender Zentralisierung darstellen. Diese Form des Euro-Zentrismus hält das Versprechen aufrecht, die Mitwirkung an universeller Modernisierung führe quasi automatisch dazu, traditionelle Gegensätze von Zentrum und Peripherie zu eliminieren. Eine darauf basierende Technokratie der Macht würde früher oder später alle und alles in den Sog zentraler Errungenschaften geraten lassen. Unterbelichtet blieb in dieser Weltanschauung die Wirksamkeit einer ungebrochenen kapitalistischen Konkurrenzlogik, die unabdingbar auf den Fortbestand (wenn nicht sogar auf der permanenten Verschärfung) von Ungleichheit, die den Fortbestand von Gegensätzen wie zwischen Drinnen und Draußen, Oben und Unten, Sieger und Verlierer und so auch zwischen Zentrum und Peripherie sicherstellt.
Aber Achtung: Das Ende der Modernität bedeutet nicht schon das Ende von Ungleichheit, eher das Gegenteil
Apologeten von Postmodernität versuchen diesen systemimmanenten Widerspruch zumindest zu relativieren, wenn sie sich von einem Glauben an ein dominantes Zentrum verabschieden und statt dessen eine neue Vielfalt von scheinbar bezugslosen, nebeneinander stattfindenden und allesamt gleichberechtigen Entwicklungen propagieren. Unter wechselnden Titeln wie Diversität und Pluralität werden Peripherien aller Art eingeladen, sich von ihren jeweiligen Zentren zu emanzipieren und – unter Rückbesinnung auf die ursprüngliche Wortbedeutung – sich „herumdrehend“ auf ihren eigenen Weg des zu machen. Spätestens mit den aktuellen Krisenerscheinungen wurde deutlich, dass es sich dabei – zumindest auch – um ein gesellschaftliches Verdummungskonzept handelt, dass vor allem KrisenverliererInnen darüber hinwegtäuschen soll, dass auf Grund einer sich verschärfenden Ungleichheit und damit verbundener Entscheidungsmacht Dependenz nach wie vor ihre Macht entfaltet und die Zugehörigkeit zu Zentrum oder zu Peripherie mehr denn je über die Zuweisung unterschiedlicher Chancen entscheidet.
Wider die Eindeutigkeit von Zuschreibungen
Dass die hier angedeuteten Verhältnisse freilich nicht so eindeutig sind, zeigt sich am Umstand, dass manches, das von den einen (noch) als peripher eingeschätzt von anderen bereits als von zentraler Bedeutung erkannt wird. Wie anders ist es etwa zu verstehen, wenn der Nigerianer Okwui Enwezor, heute Leiter des Hauses der Kunst in München, zu einer führenden Figur des internationalen Kunstbetriebes werden konnte, während sich sein Heimatland noch keinen zentralen Platz auf dessen Landkarte zu erobern vermocht hat (In der Zeit als Leiter der dokumenta 11 (1998 – 2002) bemühte er sich in besonderer Weise, global künstlerische Peripherien ins Licht eines neugierigen Zentrums zu rücken).
Zu lernen ist daraus, dass was peripher ist, sehr schnell von zentraler Bedeutung sein kann – und umgekehrt. Das mag auch daran liegen, dass selbstreferentiellen Zentren rasch der Treibstoff ausgeht, wenn sie nicht permanent mit Innovationen aus der Peripherie gefüttert werden. Man muss nicht Anhänger der Kritischen Theorie sein, deren Vertreter die These vertreten haben, politische Änderungen würden notwendig von der Peripherie ausgehen. Es genügt, den laufenden Kunstbetrieb zu beobachten, der darauf angewiesen scheint, immer neue Aktionsfelder zu explorieren und zu exploitieren, um so den unersättlichen Hunger eines neuigkeitssüchtigen Publikums zu befriedigen. Im Gegenzug finden sich Initiativen, die sich selbst den Charakter des Peripheren zuschreiben wohl nicht nur, um sich selbst zu stigmatisieren, sondern wohl auch in der Hoffnung, ihren Anspruch auf Eigensinnigkeit als Voraussetzung gesellschaftlicher Wirksamkeit, abseits der auf Zentralität gerichteten Markterfordernisse, aufrecht erhalten zu können.
Und wo im Gefüge der aktuellen Machtverhältnisse findet sich die Kulturpolitik?
Weil es bei all dem um Kulturpolitik geht, muss auch die Frage gestellt werden, wo diese sich im Spektrum zwischen Zentrum und Peripherie selbst verorten würde. Augenscheinlich ist auch hier eine beträchtliche Verlagerung, wenn sich noch vor ein paar Jahren Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik und damit verbindende Klammer über allen Politikfeldern verstanden hat. Von dieser einstigen zentralen Positionierung ist heute nur mehr wenig übrig geblieben. Stattdessen steht vieles dafür, dass Kulturpolitik im Zuge der Neuausrichtung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse (frei nach dem ehemaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel: Mehr Markt, weniger Politik!) zunehmend an den Rand der politischen Entscheidungsfindung gerückt ist und als nunmehr peripheres Phänomen von vielen gar nicht mehr als ein eigenständiger Politikbereich wahrgenommen wird. Umso wichtiger scheint heute die vorrangige kulturpolitische Aufgabe, eine ebenso überzeugende wie breit nachvollziehbare Positionierung im skizzierten Herrschaftsgefüge zu erarbeiten.
Zum Verlauf des Symposiums
Über diese Fragen – und über hoffentlich vieles mehr – werden im Rahmen des Symposiums eine Reihe internationaler Gäste miteinander ins Gespräch kommen. Als Hilfe bei der Strukturierung habe ich bei der konzeptiven Vorbereitung drei unterschiedliche Blickwinkel vorgeschlagen. Dem Gedanken des Weltsystems folgend, soll es in einem ersten Panel um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie im globalen Maßstab gehen. KollegInnen aus Asien, Afrika und Europa sind eingeladen, unter dem Titel „Global versus Local“ über unterschiedliche kulturpolitische Konzepte samt ihren transnationalen Beziehungen, Verflechtungen und Abhängigkeiten zu sprechen. Es gibt aber noch weitere geographische Dimensionen, die wir unter der Rubrik „Urban versus Rural“ abhandeln wollen. Dabei soll u.a. der Frage nachgegangen werden, ob der ländliche Raum mit seinen besonderen Qualitäten der potentiellen Verlangsamung, besonderen Naturnähe und damit verbundener Unmittelbarkeit, die er gerne als Vorteile gegenüber städtischen Regime ins Treffen führt, einer eigenen Kulturpolitik bedarf und wenn ja, wie eine solche in Zeiten digitaler Ortlosigkeit gestaltet werden kann bzw. soll.
Im Rahmen des Panels „Centres versus Margins“ wollen wir schließlich dem Umstand nachgehen, dass auch städtische Zentren keinen einheitlichen Charakter aufweisen; stattdessen innerhalb ihrer eigenen Grenzen nicht nur unmittelbar kulturpolitisch mit allen Arten von Peripherien umgehen müssen. Dies betrifft eine ungleiche Verteilung der kulturellen Infrastruktur ebenso wie die – aus vorrangig soziologischer Sicht – anhaltend wirksamen Hierarchien im sozialen und kulturellen Gefüge (Weil auch der ehemalige Kulturstadtrat von Paris, Christophe Girard, an der Veranstaltung teilnehmen wird, sei besonders auf den Film „Girlhood“ der jungen französischen Regisseurin Céline Sciamma hingewiesen, die eine Gruppe von jungen Frauen in einem der Pariser Banlieus für sich selbst sprechen lässt). Diese Differenzen finden ihren Ausdruck nicht zuletzt innerhalb des Kunstbetriebs selbst, wenn als peripher angesehene Initiativen den dominierenden Mainstreams im Zentrum auf immer neue Weise in Frage stellen und damit erst die – durchaus kontroverse – Lebendigkeit des Betriebs gewährleisten.
Und wie wär‘s mit Peripherie als Synonym für Neugierde, Interesse und Veränderung?
In einem abschließenden Panel soll schließlich der Frage nachgegangen werden, welche kulturpolitischen Schlussfolgerungen sich aus der Analyse der bestehenden, oft widersprüchlichen Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie vor allem für die künstlerische Ausbildung ziehen lassen. Die jungen KünstlerInnen jedenfalls, die ich in Kirgistan und Kasachstan getroffen habe, haben wenig Zweifel daran gelassen, dass sie sich gerne eindeutigen Zuschreibungen verweigern würden. Ihr Ziel schien es vielmehr, mit den ihnen zugewiesenen Zuschreibungen auf eine spielerische, ebenso bestätigende wie verweigernde Weise umzugehen. Dies sollte es ihnen ermöglichen, für sich, ebenso wie für ihr Publikum, neue Erfahrungsräume zu eröffnen, die uns der ursprünglichen Bedeutung von Peripherie als Bewegungsform zur Befriedigung von Interesse und Neugierde wieder näher bringen. Es wäre ein Erfolg, wenn dies auch im Rahmen dieser Veranstaltung gelänge. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sein können.
Bildnachweis: © Univ. f. angew. Kunst Wien
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