Lizenz zum Lesen

Kurzbeschreibung

Mit der Veröffentlichung der aktuellen PISA-Studie ist das Lesen als kulturelle Basisqualifikation in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Wer selbst begeisterte LeserIn ist, weiß: Dabei geht es um mehr als um das Verstehen von Informationen, die in standardisierten Tests abgefragt werden können. Die Lesefreude zu wecken und darauf aufbauend die Lese-, Medien- und Informationskompetenz nachhaltig zu fördern, ist eine Aufgabe, bei der sich Schulen und Büchereien ideal ergänzen können.

Die Büchereien Wien möchten gemeinsam mit Wiener Schulen im Pilotprojekt „Lizenz zum Lesen“ neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln, um Kinder und Jugendliche mit dem Angebot der Büchereien vertraut zu machen und sie nachhaltig in ihrer Lesebiographie zu begleiten. Drei Standorte – die Hauptbücherei, die Zweigstelle Leberberg und die Zweigstelle Philadelphiabrücke – kooperieren mit jeweils einer Schule im lokalen Umfeld in einer Lernpartnerschaft. Diese Kooperationen können neue Erkenntnisse liefern zu Fragen wie:

  • Welche Rahmenbedingungen sind für eine gelingende Kooperation notwendig?
  • Welche Erwartungen haben die unterschiedlichen Beteiligten?
  • Welche Ressourcen und Kapazitäten können sie beibringen?
  • Wie können die SchülerInnen/Eltern/das schulische Umfeld mit einbezogen werden?
  • Welche gemeinsamen Ziele können formuliert werden?
  • Und wie kann deren Erreichung sichergestellt werden?
  • Etc.

 

Zur wissenschaftlichen Begleitung des Projekts arbeiten die Büchereien Wien mit EDUCULT zusammen. Ziel der Prozessbegleitung durch EDUCULT ist es, einerseits ein lernendes Projekt zu schaffen und damit die Grundlagen für die Optimierung der vorhandenen Qualität zu erarbeiten. Andererseits soll Wissen über Kooperationsprojekte, deren Gelingensbedingungen und Nutzen generiert werden, auf das Folgeprojekte aufbauen können.

Methode

Im Forschungsprozess arbeitet EDUCULT mit seinen bewährten dialogorientierten Methoden – Round Tables, Interviews. Zur Analyse der konkreten Projektarbeit werden auch Beobachtungen eingesetzt. EDUCULT reflektiert und diskutiert die Ergebnisse aus dem Forschungsprozess unter anderem in projektbegleitenden Steuergruppentreffen mit den Beteiligten, um den Lern- und Kommunikationsprozess inhaltlich zu fundieren und anzureichern.

Europa darf nicht Theresienstadt werden

Nach der Besetzung Dänemarks im Jahr 1943 überzog das NS-Regime auch dieses Land mit einer Verhaftungswelle unter der jüdischen Bevölkerung. Den deutschen Häschern fielen rund 450 Juden in die Hände, die nach ihrem Aufgreifen in das Vorzeige-Konzentrationslager Theresienstadt in Tschechien gebracht wurden. Die mutige dänische Regierung forderte daraufhin die Behörden in Berlin auf, sie über den Verbleib ihrer Landsleute zu informieren.

1944 gestattete der, für die Judenvernichtung des deutschen Reiches zuständige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann einen Besuch des Internationalen Roten Kreuzes in Theresienstadt. Zuvor ordnete er eine groß angelegte „Verschönerungsaktion“ an: Den jüdischen Häftlingen wurde befohlen, die Häuserfronten zu streichen, Blumenbeete und einen Spielplatz für Kinder anzulegen, die Turnhalle in eine Bühne und eine Bibliothek zu verwandeln sowie einen Musikpavillon zu errichten. Um das Gelände weniger überfüllt erscheinen zu lassen, wurden rund 7 500 Personen vorzeitig nach Auschwitz geschafft.

Die Inspektoren des Roten Kreuzes ließen sich von den falschen Fassaden vollständig täuschen, sodass die Vertreter davon absahen, danach auch noch andere Lager im Osten, insbesondere das „Arbeitslager“ Auschwitz zu besichtigen. Der groß angelegte Schwindel erwies sich als ein großer Sieg für die Nazi-Propaganda.

Wenige Wochen nach der Inspektion begannen die Dreharbeiten zum Film „Theresienstadt“, der unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ in die Geschichte eingehen sollte. Der Film, der nicht vollständig erhalten geblieben ist, zeigt die scheinbare Idylle eines Lagers, in dem einander geregelte Arbeit mit vielfältigen sportlichen und kulturellen Freizeitaktivitäten abwechseln. Gezeigt werden u. a. „eine gut besuchte Vortragsreihe über wissenschaftlich und künstlerische Themen“, „kreatives Schaffen in einer Töpferei“, ein „Fußballspiel“ und eine „musikalische Darbietung eines Werkes eines in Theresienstadt lebenden jüdischen Komponisten“ durch ein großes Orchester.

Ein Großteil der jüdischen DarstellerInnen erlebte die Fertigstellung des Films nicht. Sie wurden unmittelbar nach Ende der Aufnahmen in andere Konzentrationslager weiter transportiert (unter ihnen auch der „Regisseur“ des Films Kurt Gerron, die in Auschwitz-Birkenau umkam). Die Nazis beabsichtigten, den Film in zahlreichern Kopien an internationale Organisationen zu versenden, um den Gerüchten über die deutsche Massenvernichtung entgegen zu wirken. Der Zusammenbruch der Ostfront und damit das Offensichtlichwerden der Gräueltaten des NS-Regimes sollte diesen späten Versuch euphemistischer Propaganda zunichte machen. Aber erst die Zeugenschaft der wenigen Überlebenden machte das ganze Ausmaß der Infamie des Lagerlebens deutlich, in dem sich Kabarett-, Theater- und Musikaufführungen mit zum Teil prominenten Ausführenden des kulturellen Lebens mit brutaler Repression vermengten (So überlebten von den rund 15 000 Kindern, für die u. a. die Oper „Brundibar“ 55mal aufgeführt wurde nur rund 150 das Kriegsende).

Der tendenzielle Verlust des (politischen) Realitätssinns

Diese, nur scheinbar weit hergeholte Assoziation über ein, das Europa des 20. Jahrhunderts prägenden Geschehens, überkam mich, als ich jüngst eine Veranstaltung des Österreichischen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur zu „Kreative Partnerschaften“ besuchte. U. a. berichtete dort eine Mitarbeiterin der englischen Vermittlungseinrichtung „Culture, Creativity, Education“ in bewegten Worten über ihr Flagship-Programm „Creative Partnerships“. Einmal mehr zeigten sich die österreichischen ZuhörerInnen über die schieren finanziellen Größenordnungen fasziniert, darüber hinaus von den vollmundigen Versprechungen und den Beweisen, welchen nachhaltig positiven Beitrag das Programm für die Verbesserung der Lebenschancen gerade für benachteiligte junge Menschen zu leisten vermag.

Was die Kollegin aus England aber mit keinem Wort erwähnte, das waren die geänderten politischen Rahmenbedingungen, die mit dem Amtsantritt der Regierung Cameron/Clegg dem Projekt ein baldiges Ende vorsehen. Dabei hatte der Direktor Paul Collard von CCE bereits vorigen Oktober öffentlich gemacht, dass die neue Regierung – sehr zu seinem Bedauern – nicht bereit war, den in mehreren Evaluierungen nachgewiesenen positiven Wirkungen Rechnung zu tragen und statt dessen im Rahmen des allgemeinen Sparkurses eine schrittweise Beendigung bis 2012 vorzunehmen. Als einer der Gründe wurde die Herkunft des neuen Erziehungsministers Michael Gove ins Treffen geführt, der sich als wie viele seiner aktuellen Amtskollegen eine andere Bildung, als die er selbst in einer der britischen
Eliteschulen genossen habe, gar nicht vorstellen könne.

Diese Art der rhetorischen Realitätsverweigerung schien mir umso erstaunlicher, als ich bei anderen europäischen Treffen der jüngsten Zeit durchaus den Eindruck gewinnen konnte, dass den englischen KollegInnen die politisch verordneten Grenzen bisheriger Advocacy-Strategien zugunsten einer neuen Lehr- und Kernkultur angesichts des parteipolitischen Wechsels der Kräfteverhältnisse durchaus zum Nachdenken gebracht haben.

Die Erfolge von „Creative Partnerships“ und die perspektivlosen Realitäten für junge Menschen am Arbeitsmarkt

An die Grenzen meiner Verständnisbereitschaft aber bin ich gestoßen als die Mitarbeiterin von CCE einen ehemaligen englischen Minister zitierte („Und wenn es ein Minister sagt, dann muss es ja wahr sein“) der gemeint haben soll, 60
% der Jobs, den die SchülerInnen von heute einmal ausfüllen würden, seien noch gar nicht „erfunden“ worden. Daher habe sich “Creative Partnerships” zum Ziel gesetzt, den jungen Menschen die Haltung zu vermitteln „not to seek for a job but to create a job“.

Ginge es darum, den Beweis für diesbezügliche Arbeitsmarkterfolge von “Creative Partnerships” anzutreten, dann kämen wir rasch in Verlegenheit (und müssten möglicher weise der englischen Regierung sogar zustimmen, das Projekt möglichst rasch zu stoppen). Immerhin wies England – „Creative Partnerships“ hin oder her – im März dieses Jahres einen Höchststand der Arbeitslosigkeit im Ausmaß von 2,53 Mio. aus. Dabei nahm der Anteil der Jugendarbeitslosigkeit nochmals eine Sonderstellung ein. Sie beträgt bei 16 – 24jährigen – dem Office of National Statistics zufolge – mittlerweile über 20%.

Völlig irrwitzig aber wird die Behauptung, kulturelle Bildung wäre in der Lage, die Beschäftigungschancen junger Menschen nicht nur punktuell sondern strukturell zu verbessern, wenn man in den Süden Europas blickt. So hat die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien mittlerweile ein völlig unerträgliches Ausmaß von 50% erreicht, gefolgt von Griechenland, dessen von völligem Zusammenbruch bedrohte Wirtschaft nur mehr in der Lage ist, rund 55% der Jugendlichen Aussicht auf Beschäftigung zu bieten. Und angesichts dieser schieren Zahlen wird wohl niemand argumentativ versuchen wollen, kulturelle Bildung als Maßnahme für einen nachhaltigen Verbesserung der Arbeitsmärkte anzupreisen.

Ich erwähne dieses Beispiel, weil sich damit sehr gut die zunehmende Verselbständigung eines Diskurses nachzeichnen lässt, der immer weniger in der Lage ist, auf die realen Verhältnisse derer, an die sich kulturelle Bildung vorgeblich richtet Bezug zu nehmen. Und so verständigen sich in der Regel pragmatisierte Lobbyisten, die nie auch nur einen einzigen Job geschaffen haben, in erster Linie zur eigenen Psychohygiene über junge Menschen, denen kulturelle Bildung dazu verhelfen soll, ihren eigenen Job zu kreieren. Und werden nicht einmal rot dabei.

Die Zukunft Europas steht auf dem Spiel

Die erschreckenden Arbeitslosenzahlen sind nur ein, dafür besonders signifikantes Zeichen für eine für eine umfassende politische Perspektivlosigkeit der demokratischen Kräfte in Europa.. Entsprechend erlebt der Kontinent  in diesen Tagen eine fundamentale Krise, die die Grundfesten des Zusammenlebens seiner Gesellschaften erschüttert. Was sich hier zusammenbraut, das ist ein globaler Wirtschaftskrieg, dem Europa mit seinen wachsenden zentrifugal wirkenden nationalistischen Kräften, denen nur sehr unzulänglichen Kooperationsstrukturen entgegenstehen, kaum gewachsen zu sein scheint. Und plötzlich stehen fundamentale europäische Werte zur Disposition, wenn von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien in einer immer mehr Ländern mühsam errungene demokratische Errungenschaften angezweifelt und bislang selbstverständliche Solidaritäten in Frage gestellt werden.

Den Preis zahlen nicht nur die politisch zunehmend ausgegrenzten MigrantInnen; die Verunsicherung reicht mittlerweile weit in mittelständische Milieus, die traditionell als die entscheidenden Träger des kulturellen Lebens gelten, jetzt aber ganz andere Probleme haben, weil sie ihre Zukunftsperspektiven in Frage gestellt sehen. Dazu warnte jüngst der ehemalige österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, sich vom bislang gemeinsamen Ziel eines sozialen Europa zu verabschieden. Die einzig verbleibende Antwort der Betroffenen sieht er in der Verschärfung sozialer Konflikte bzw. im Ausbrechen einer neuen Welle durchaus handgreiflicher Revolutionen. Es wäre das dann die tätige Umsetzung von Stéphane Hessel’s Forderung nach „Indignez Vous!“ mit unabsehbaren gesellschaftspolitischen Folgen.

Was hier – von den RepräsentantInnen kultureller Bildung weitgehend ignoriert und damit unkommentiert – passiert ist nach Gusenbauer „die schrittweise Zerlegung sozialer Erfahrungen und Bedürfnisse, die die Abschaffung von deren Erfordernissen durch angewandtes Ignorantentum vorbereitet. Wenn man wissen will, wie Staaten aussehen können, die sich bereits auf der Zielgeraden des neu eingeschlagenen Weges befinden, braucht man nur nach Ungarn oder Italien zu schauen“.

Liegt Europas Ausweg in  seiner umfassenden Musealisierung?

Bereits 2006 hatte der deutsche Professor für Ästhetik Bazon Brock im Rahmen seines „Lustmarsches durchs Theoriegelände“ vor einer Niederlage Europas in diesem zunehmend brisanter werdenden Konkurrenzkampf gewarnt. Auch wenn manche RepräsentantInnen kultureller Bildung dem vielleicht sogar etwas abgewinnen können, prognostizierte er bereits vor fünf Jahren den künftigen Funktionszuschreibung Europas als eines großen Museums der überkommenden Werte. Seine geopolitische Position im Rahmen einer künftigen internationalen Arbeitsteilung würde sich im wesentlichen darauf beschränken, bei seinen Gästen die Erinnerung am realpolitisch verloren gegangener Werte wie Demokratie, Solidarität aber auch Kultur oder Kunst wach zu halten, die hierzulande als Museumsobjekte noch einmal in ihrer ganzen gesellschaftspolitische Wirkungslosigkeit bestaunt werden können.

In äußerster Zuspitzung hätten wir es dann mit einem europaweiten Theresienstadt zu tun: Ja, auch in einem solchen Zukunftsszenario könnten die Menschen Musik machen, Theater spielen, vielleicht sogar Filme drehen. Diese Tätigkeiten mögen ihre Lebensbedingungen zumindest für den jeweiligen Augenblick erträglich erscheinen lassen, vielleicht sogar Hoffnungen auf einen Ausweg wach halten. Und doch werden diese kulturellen Tätigkeiten in erster Linie zu einer Bestätigung, dass sie als EuropäerInnen nicht mehr Herr oder Frau ihrer Lage sind; dass politisch Mächtige ganz andernorts über sie bestimmen und über ihr Leben – und im letzten auch über ihr Sterben – entscheiden (um dabei auch noch auf das reiche kulturelle Leben als wirkungsvolles Propagandaargument zur Bestätigung der eigenen Machtansprüche ins Treffen zu führen).

Für ein Kulturleben jenseits der politischen Verdummung

In diesen Tagen ist das Buch „Blödmaschinen – Die Fabrikation der Stupidität“ von Markus Metz und Georg Seeßlen herausgekommen. Ich würde gerne künftigen Diskussionen zu kultureller Bildung das Motto dieser umfassenden Gesellschaftsanalyse ans Herz legen: „Diese Gesellschaft verwandelt sich von einem System, das von sich nichts wissen kann, über ein System, das von sich nichts wissen darf, in ein System, das von sich nichts wissen will“.

Um diese These zu falsifizieren empfehle ich uns allen die Lektüre des Buches, vielleicht während der kommenden Sommerferien am Strand einer griechischen Insel, in der Hoffnung, damit einen ganz konkreten, weil finanzwirksamen Beitrag zu leisten, der mithilft, den völligen Kollaps dieses EU- Mitgliedsstaates (und bei der Gelegenheit vielleicht auch gleich des ganzen europäischen Projekts) abzuwenden.

Über den Gewinn von Kontroversen und den Verlust von Kostbarkeit

Vorab eine ebenso persönliche wie überraschende Wahrnehmung: Ich sitze als Zuhörer im Forum „Digitale Kulturvermittlung“. An der Stirnfront des Arbeitsraums hängt ein dekoratives Kunstobjekt, vielleicht zweimal zwei Meter groß. Davor ein Panel aus drei Vermittlerinnen, die anhand ihrer Arbeitspraxis die Entwicklungstrends der aktuellen Digitalisierung anhand ihres Berufsfeldes diskutieren. Eine von ihnen verdeckt einen Teil des Kunstobjekts. Vor ihr eine Menge technischer Geräte, Computer, Beamer, Verteiler, Drähte, Lautsprecher, die in Gang gesetzt werden, nicht funktionieren, Irritation der Vortragenden hervorrufen, durch Unaufmerksamkeit auf den Boden fallen, wieder angeschlossen werden,  jedenfalls eine Menge an Aufmerksamkeit erregen und sich dabei als eine machtvolle Instanz zwischen mich und das Bild an der Wand schieben.

Aber um das Bild an der Wand ging es ja gar nicht. Vielmehr um eine Bestandsaufnahme des state of the art von Vermittlung im Zeitalter der digitalen Medien. Dazu vermittelte der Kongress „netz.macht.kultur“ der Deutschen Kulturpolitischen Gesellschaft, der vorige Woche in Berlin stattfand, eine Reihe sehr eindrücklicher Beispiele von kulturellen Einrichtungen, die zur Zeit erfolgreich versuchen, mit viel Engagement die von Thomas Krüger, dem Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, konstatierten „bewahrpädagogischen Duldungsstarre“ zu überwinden.

Und doch machte mir die räumliche Situation im Forum unmittelbar bewusst, dass die neuen technologischen Errungenschaften auch eine Form der Entfremdung darstellen. Ich erfahre ganz sinnlich, dass sich zwischen mich und das Kunstwerk immer mehr Personen und Apparate zu schieben versuchen, die nach erfolgreichem „Interagieren“ vorgeben, eine Brücke zwischen mir und der Kunst schlagen zu wollen und mich doch im selben Ausmaß ganz unmittelbar räumlich von eben dieser Kunst entfernen.

Digitale Vermittlung zwischen Annäherung und Entfremdung

Ungewollt wurde damit die Sitzanordnung bei diesem Forum zum Ausdruck einer Widersprüchlichkeit der Einschätzung der Konsequenzen der Digitalisierung des Kulturbereichs, der die gesamte Veranstaltung durchzogen hat. Es gehört zu den
Qualitäten der guten Vorbereitung dieses Kongresses, dass diese Gegensätzlichkeiten von Anfang an zum Ausdruck kommen durften und sich in zum Teil diametral unterschiedliche Positionen zu artikulierten vermochten.

Um an dieser Stelle möchte ich nur einige wenige Diskussionsfäden auszugreifen: So informierte die Content Managerin des Städel-Museums Frankfurt über eine Vielzahl neuer Kommunikationsformen, die das Haus seinen (potentiellen) NutzerInnen anbieten. Facebook, Twitter, Friendfeed, Lifestream, Flickr, Youtube oder Blog bilden die Bestandteile der von Daniela Bamberger sieben Tage in der Woche Tag und Nacht gemanagten Vernetzung mit der Städel-Community, im Rahmen derer die NutzerInnen elektronisch Fragen stellen, Kommentare abgeben, sich auf ihre Ausstellungsbesuche vorbereiten, ihre eigenen Galerien anfertigen oder für den Zubau spenden können. Und natürlich können die NutzerInnen auch über die Führungsthemen abstimmen, was mich zur Frage bringt, was das für die Themen bedeutet, die nicht erstgereiht wurden – und damit für diejenigen, die sich als eine für irrelevant erklärten Minderheit dafür interessiert hätten.

Wie überhaupt ein Hang zu einer „Vermainstreamung“ unübersehbar ist, wenn die Rückmeldungen auf die Ausstellung „Sandro Botticelli“ genau jene Klischees zu verfestigen scheinen, die Kunstvermittlung einst aufgebrochen ist, zugunsten neuer sinnlich-ästhetischer Erfahrungsräume hinter sich zu lassen. Jedenfalls lassen die bekannt gemachten Feedbacks in ihrer inhaltlichen Bescheidenheit vermuten, dass sich die RückmelderInnen in ihren diesbezüglichen Erkundungen nicht sehr weit vorgewagt haben.

Für eine Kultureinrichtung wie das Städel-Museum ist es sicher ein entscheidender Wettbewerbsvorteil, auf diese Weise mehr über die Gewohnheiten und Erwartungen seiner potentiellen NutzerInnen zu erfahren. Und doch kann man bei der Beobachtung dieser neuen Formen der digitalen Interaktion auch den Eindruck einer massenhaften Verfestigung bestehender Attitüden bekommen.

Die Fortsetzung des Wettbewerbs auf technologisch avanciertem Niveau?

Auf struktureller Ebene machte der Einblick in die Städel’sche Erfolgsgeschichte seiner digitalen Neuverortung im öffentlichen Raum ein gravierendes kulturpolitisches Problem deutlich. Immerhin suggeriert der Eintritt in den digitalen Raum den Abbau hierarchischer Verhältnisse, der allen TeilnehmerInnen gleichberechtigte Zugangschancen verschaffen würde. Ausgeklammert wird (und wurde auch während des Kongresses) der Umstand, dass dieser Eintritt in diese Arena die Bereitschaft zur Mitwirkung an einer neuen Form des Kampfes um Aufmerksamkeit bedeutet.

Ja, alle haben die Chance, ihre spezifischen Inhalte und ihre daran geknüpften Kommunikationsangebote anzubieten. Und doch ist zu vermuten, dass mit der Eröffnung dieser neuen Runde des Wettbewerbs mit technologisch aufgerüsteten Mitteln nicht alle Angebote per se den gleichen Grad an Aufmerksamkeit finden werden, etwa wenn es darum geht – wie das das Dresdener Beigeordnete für Kultur drastisch auf den Punkt gebracht hat –  eine Balance zwischen dem Besuch einer Block-Buster-Auststellung im Städel-Museum in Frankfurt und dem einzigen erhaltenen Wohnort des Komponisten Carl Maria von Weber in seinem Heimatort Dresden herzustellen.

Der Verlust der Kostbarkeit

Dazu noch eine heikle Anmerkung; Angesichts des immer unübersichtlicheren Angebots im digitalen Raum ist mir der Verlust des Begriffs „Kostbarkeit“ aufgefallen. Das ist möglicher Weise kein Zufall. Gegen seine Verwendung suggeriert der digitale Raum, dass immer schon alles da ist und nur darauf wartet, endlich wahr genommen, genutzt, kommentiert oder sonst wie verwendet zu werden. Da ist nichts mehr, was angesichts suggerierter medialer Allverfügbarkeit die Zuschreibung „kostbar“, weil einzigartig, zumindest besonders herausragend verdienen würde; ein Umstand, der auch etwas über die Änderungen unserer kulturellen Wertvorstellungen insgesamt erzählt, die sich nicht mehr am Mangel sondern am Überschuss kultureller Angebote orientieren, die, nach den Vorgaben der Industrie auf Gedeih und Verderb, an die potentiellen NutzerInnen herangetragen werden müssen während sie für den großen Rest der NichtnutzerInnen als Wert überhaupt nicht mehr erkannt werden. 

Das Ende von Kulturpolitik im digitalen Raum?

Im Verhältnis von ProduzentInnen und RezipientInnen machte dieser Kongress einen gravierenden Unterschied im kulturpolitischen Zugang deutlich. Wurden und werden im physischen kulturellen Raum immer wieder kulturpolitische Maßnahmen überlegt (und da oder dort auch umgesetzt), um eine auf vielfältige Nutzung gerichtete Nachfrage Rechnung zu tragen, so hat sich im digitalen Raum die Kulturpolitik als steuernde Kraft weitgehend verabschiedet (ihr wird in der Zuschreibung als überkommenes Verwaltungshandeln zur Fortschreibung bestehender Ungleichheiten bestenfalls eine beharrende, die aktuelle Dynamik bestenfalls bremsende Wirkung zugesprochen).

Kein Kulturpolitiker weit und breit, der noch einmal versuchen wollte, im Kontext der digitalen Medien das Mitwirkungsverhalten einzelner Bevölkerungsgruppen zu beeinflussen. So konnte man im Lauf des Kongresses den Eindruck gewinnen, der digitale öffentliche Raum sei restlos „entpolitisiert“ und würde weitgehend den Marktkräften im Spannungsverhältnis von Angebot und Nachfrage überlassen. Sie alleine seien in der Lage, dank der neuen technischen Möglichkeiten der Interaktion die Verhältnisse vor allem zwischen den Institutionen und ihren NutzerInnen neu zu bestimmen.

Anders im Bereich der Produktion, für die sich die Kulturpolitik noch einmal deutlich zuständig erklärte. Dabei ging es vor allem um die Aufrechterhaltung des bisherigen Urheberrechtsverständnisses: Während sich der für Kultur zuständige deutsche Staatsminister Bernd Neumann bereits in seiner Eröffnungsrede sehr deutlich für den Fortbestand eines, aus vordigitalisierten Zeiten stammenden subjektzentrierten Urheberrechts auch im virtuellen Raum aussprach, verkündete der niederländische Medientheoretiker Geert Lovink auf Grund der völlig geänderten Produktionsverhältnisse den „Tod des Urheberrechts“. Und zwischen diesen beiden Extremen schwang dann auch die Diskussion während der gesamten Konferenz, die durch die jüngste kriminalpolizeiliche Sperre der Filmplattform „kinot0“ besondere Brisanz erlangte.

Das Ende des Kunstspiels

Noch einmal einen ganz anderen Ton schlug der mit seiner Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ bekannt gewordene Soziologe Gerhard Schulze in seinem Vortrag „Strukturwandel und Öffentlichkeit 2.0“ an. In Weiterentwicklung der gleichnamigen Habilitationsschrift von Jürgen Habermas konstatierte er eine fundamentale Veränderung dessen, was bislang als „öffentlicher Raum“ gegolten hat. Unter der Überschrift „Marginalisierung“ vermeldete Schulze „den Verlust der Kunst“ als Leitmedium der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaften. Stellte für die bürgerliche Öffentlichkeit die Kunst noch das höchste Gut dar, um auf diese Weise als Quelle des bürgerlichen Selbstbewusstseins zu firmieren, so habe sich diese Qualität zunehmend an die Ränder verschoben. Damit mutiere das Kunst-Spiel nicht mehr die Eintrittskarte ins gesellschaftliche Leben sondern die Bereitschaft, sich in eine von vielen Nische zu begeben: „Wenn ich in die Oper gehe, bin ich nicht (mehr) am Puls der Öffentlichkeit, vielmehr suche ich eine Nische auf. Gleiches gilt für Einkaufzentren, Kneipen, Automobilmessen, Fernsehformate oder Swinger Clubs. An die Stelle eines gemeinsamen Kristallisationskerns sind zahllose Andockmöglichkeiten für ebenso zahllose Interessen, Idiosynkrasien und Obsessionen getreten“. Der Bezug zum Tagungsthema: Die Digitalisierung aller Lebensbereiche beschleunige den Trend zur Marginalisierung und führe darüber hinaus zur Auflösung des „Kunstspiels“: „Die digitale Öffentlichkeit hat das Kunstspiel hinter sich gelassen. Damit verbindet sich eine Einebnung in zweierlei Hinsicht: eine Egalisierung der Werke und eine Demokratisierung der Rezipienten“.

Für die einen mag dieser Befund einer, die Fundamente der Profession erschütternden narzisstischen Kränkung gleichkommen, wenn damit die gesellschaftliche Deutungskraft ihres idealistisch aufgeladenen Gegenstands Kunst und Kultur relativiert wird. Für die anderen hingegen mögen die Ausführungen Schulzes, der für einen Wissenschafter in erstaunlich neokonservativer Attitüde schon einmal das Theaterschaffen der letzten Jahre als insgesamt „idiotisch“ wegzuwischen vermochte, entlastend wirken, weil sie sich damit ohne Berührungsängste in das überbordende Angebot eines weitgehend digitalisierten Marktes einzuordnen vermögen.

Folgt Österreichs Kulturpolitik bereits Schulzes Marginalisierungsthesen?

Aus österreichischer Sicht war vor allem erstaunlich, dass eine solche, durchaus auf Kontroverse angelegte kulturpolitische Fachveranstaltung in Zeiten, in denen „Rettungsschirme für Banken mit Sparpaketen für Kultureinrichtungen“ (Thomas Krüger) korrelieren, überhaupt stattfinden kann. Hierorts scheint sich die Szene bereits weitgehend damit abgefunden zu haben, dass die österreichische Kulturpolitik die Schulze’schen Befunde der Marginalisierung antizipiert hat, um gar nicht mehr auf die Idee zu kommen, dass ihre Weiterentwicklung unmittelbar an die Aufrechterhaltung diskursiver Räume geknüpft ist. Dass einzelnen Akteuren die Bereitschaft zur Diskussion nicht verloren gegangen ist, zeigte die große Zahl kulturpolitischer ExilantInnen bei dieser Fachtagung, zu der auch die SPÖ-Kultursprecherin Sonja Ablinger gehörte.

Das Stapferhaus und seine aktuelle Ausstellung „Home – Willkommen in der virtuellen Heimat“ als Beispiel von Good Practice

Zum Abschluss möchte ich auf ein besonderes Beispiel von Good Practice hinweisen, das auch bei „netz.macht.kultur“ vorgestellt wurde. Es geht um die Ausstellung „Home – Willkommen im digitalen Leben“, die vom Stapferhaus im schweizerischen Lenzburg ausgerichtet wurde. Als ein Angebot an die BesucherInnen, sich mit den vielfältigen Einflüssen der digitalen Technologien auf unsere Lebens- und Arbeitsformen auseinander zu setzen, schafft sie nicht nur interaktive Räume sondern – wie in den Satzungen des Stampferhauses vorgesehen – ganz unmittelbar Kultur.