
EDUCULT im Gespräch mit Bagher Ahmadi
Bagher Ahmadi ist mit 2012 im Alter von 16 Jahren nach dreijähriger Flucht aus Afghanistan nach Österreich gekommen. Nach Aufenthalten in Traiskirchen und in einem Flüchtlingsheim für unbegleitete Minderjährige in Oberösterreich verfolgt Bagher Ahmadi nun ambitioniert seinen Berufswunsch, Schauspieler zu werden. Er studiert seit März 2015 an der Linzer Film- und Schauspielakademie und ist u.a. als Darsteller beim Künstlerkollektiv „Die Schweigende Mehrheit“ aktiv. Derzeit ist er auf Wohnungssuche in Wien, um hier seine Schauspielausbildung ab Jänner 2016 fortsetzen zu können – für eine diesbezügliche Kontaktaufnahme stehen wir gerne zur Verfügung.
Am 18. Oktober kann man ihn im Dschungel Wien sowie am 13. November im Werk X in der Aufführung „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ auch auf der Bühne erleben.
EDUCULT: Warum sind Sie nach Österreich gekommen?
Bagher Ahmadi: Ich musste mit 13 Jahren flüchten. Ich habe als Kind meine Mutter verloren. Sie ist im Krieg gestorben und nach zwei Jahren hat mein Vater wieder geheiratet. Meine Stiefmutter hat uns Kinder wie Sklaven behandelt. Bis zur vierten Klasse ging ich in keine richtige Schule. Im Winter waren wir z.B. in einer Moschee untergebracht und haben nur ein wenig Rechnen oder Schreiben gelernt. Später musste ich dann meinem Vater bei der Landwirtschaft helfen. Mein Bruder war besser in der Schule, also musste ich zuhause arbeiten statt in die Schule zu gehen. Es war auch gefährlich in Afghanistan, weil die kleinen Kinder von den Taliban entführt und nie wieder gefunden wurden.
EDUCULT: Damit haben Sie auch konkrete Erfahrungen gemacht?
Bagher Ahmadi: Ja. Wenn wir in Afghanistan auf der Straße unterwegs waren, gab es unbekannte Autos mit dunklen Fenstern. Da wussten wir gleich, wir müssen weglaufen. Wenn ich im Gebirge unterwegs war, um die Schafe zu hüten oder Feuerholz zu sammeln, hatte ich Angst vor den Taliban. Meiner Stiefmutter war das egal. Sie hat mich immer wieder weg geschickt. Dann habe ich mich dazu entschlossen, alleine in den Iran zu flüchten. Ich habe jemanden kennengelernt, mit dem ich dann zusammen unterwegs war.
Es war eine schwierige Flucht. Zuerst waren wir zwei Tage zu Fuß unterwegs, dann lernten wir einen Schlepper kennen. Im Iran waren wir dann mit vielen anderen Menschen in einem kleinen Raum ohne Fenster eingesperrt und der Schlepper meinte, erst wenn unsere Familien Geld bringen würden, könnten wir wieder gehen. Wir sagten, dass wir keine Familie im Iran hätten, aber er glaubte uns nicht. Wir waren fünf Tage in dieser Hütte. Danach brachte er uns in eine Glasfabrik. Dort mussten wir solange arbeiten, bis wir das Geld zusammen hatten. Insgesamt war ich drei Jahre im Iran und arbeitete dort, aber bleiben konnte ich auch nicht. Ich habe immer schwarzgearbeitet. Dort kann man nicht wie in Europa einfach zur Polizei gehen und sagen, man möchte einen Asylantrag stellen. Wenn sie über dich Bescheid wissen, dann schicken sie dich sofort zurück. Es war sehr schwierig. Zurück nach Afghanistan konnte ich nicht, dort konnte ich auch nicht bleiben. Manche haben erzählt, dass es in Europa besser ist. Ich wollte weiter in die Schule gehen und hatte gehört, dass man in Europa als Flüchtling Hilfe bekommen würde.
EDUCULT: Warum sind Sie gerade nach Österreich gekommen?
Bagher Ahmadi: Ich wusste gar nichts über Österreich. Ich wusste auch nicht viel über Europa. Ich wollte nur in irgendein europäisches Land. Als ich nach Griechenland gekommen bin, habe ich am Weg gehört, dass sie einem in Griechenland nicht helfen können. Ich wollte erstmal nach Italien und dann weitersehen. Ich kam mit einem Schlepper nach Igoumenitsa. Wir lebten dort eine Woche im Wald. Wir mussten mit ein wenig Thunfisch, Brot und einer Flasche Wasser auskommen, bis wir mit den Schleppern weiterfahren konnten. Die Polizei hatte sie aber festgenommen. Andere Schlepper haben dann zu mir gesagt, sie nehmen uns mit, aber dann meinten sie wieder, wir müssen es doch selbst versuchen. Dann sagte plötzlich einer zu mir, ich soll zu ihm kommen. Ich sah an seinem Blick, was los war. Ich wollte weglaufen, aber er hielt mich fest und fragte mich, wieviel Geld ich noch habe. Sie durchsuchten meine Taschen und fanden 50 Euro. Sie glaubten mir nicht, dass das alles war. Wenn jemand auf der Flucht ist, dann hat und braucht er viel Geld. Ich hatte einen 500 Euro-Schein in den Schuhen vernäht, sie nahmen ihn mir weg. Sie bedrohten mich mit einem Messer und sagten, wenn sie mich noch einmal sehen, dann töten sie mich. Ich hatte Angst, in Griechenland bleiben zu müssen, weil die Leute, die dort bleiben und kein Geld haben, auf der Straße leben müssen und verhungern. Sie können nicht vor und zurück. Von den Schleppern wusste ich, dass es den Weg nach Österreich gibt und man von dort aus alleine weiterreisen kann.
EDUCULT: Es war eigentlich die Entscheidung der Schlepper, Sie nach Österreich zu bringen?
Bagher Ahmadi: Ja, ich wollte nicht in Österreich bleiben. Ich wollte vielleicht nach Schweden oder Norwegen. Ich hatte gehört, dass das Asylwesen dort besser ist und dass sie einem dort helfen, damit man in die Schule gehen kann. Als ich dann in Wien angekommen bin, haben sie mich sofort nach meinem Reisepass gefragt. Ich sagte: „No passport“. Dann haben sie mir meine Fingerabdrücke abgenommen. Deshalb bin ich in Österreich geblieben.
EDUCULT: Sie haben hier um Asyl angesucht?
Bagher Ahmadi: Ja. Sie schickten mich nach Traiskirchen, wo ich zwei Monate lang gelebt habe. Dann haben sie mich nach Gallspach, einem kleinen Ort in Oberösterreich, in ein Flüchtlingsheim für Minderjährige gebracht. Dort wohnte ich bis zu meinem 18. Lebensjahr. Danach musste ich in ein Heim für Erwachsene ziehen. Wenn man einen Bescheid hat, kann man auch privat wohnen. Ich hatte ein Jahr lang gar nichts bekommen und danach einen Negativbescheid, dass ich doch nicht hier bleiben darf. Das war sehr bitter, weil ich nicht wusste, wo ich sonst hin sollte und dann das Warten. Nach einem Jahr habe ich mit Hilfe eines Anwalts ein zweites Interview bekommen. Von Wien habe ich dann subsidiären Schutz bekommen. Dann darf man arbeiten und in Österreich bleiben, aber nicht ins Ausland reisen. Man kann dann auch einen Antrag für einen Fremdenpass stellen und mit dem in andere Länder reisen. Jetzt hoffe ich, dass ich den in Wien bekomme, aber dafür muss ich auch in Wien wohnen. Das ist das Problem.
EDUCULT: Was für einen Eindruck haben Sie von Österreich? Was würden Sie anderen Menschen über Österreich erzählen?
Bagher Ahmadi: Ich wusste am Anfang gar nichts über Österreich, aber ich habe hier viel Hilfe bekommen. Mein größter Wunsch war es, Schauspieler zu werden. Jetzt bin ich in einer Schauspielschule. „Ich bin zufrieden“, wie man in Österreich sagt.
EDUCULT: Warum wollten Sie Schauspiel studieren?
Bagher Ahmadi: Das ist eine lange Geschichte. Mit neun Jahren habe ich das erste Mal einen Film gesehen und es war so interessant und beeindruckend für mich. Ich wollte das unbedingt auch können, aber ich wusste nicht, wie das überhaupt geht.
EDUCULT: Wie geht es Ihnen hier in Österreich mit dem Erlernen des Schauspielberufs?
Bagher Ahmadi: Es ist ein schwieriger Beruf. Es geht nicht von heute auf morgen, man muss Geduld haben und dran bleiben. Außerdem sind die Privatschulen teuer und man muss auch erst die Kultur und Sprache lernen. Auch Englisch muss man gut können, das gehört auch dazu, wenn man Schauspieler werden will. Ich habe hier erst angefangen, Englisch zu lernen. Es war für mich auch finanziell schwierig, aber ich liebe das Schauspielen und egal welchen Schwierigkeiten ich begegne, möchte ich dran bleiben. Ich will beides machen, Theater und Film, wobei ich mehr beim Film als Schauspieler und Stuntman arbeiten möchte. Ich möchte auch hinter der Kamera arbeiten, Drehbuch schreiben oder Regie führen.
EDUCULT: Fühlen Sie sich hier von Österreichern unterstützt oder müssen Sie gegen großen Widerstand ankämpfen?
Bagher Ahmadi: Eigentlich möchte ich nicht von anderen abhängig sein oder erwarten, dass sie mir helfen. Ich möchte alles selber machen, aber trotzdem gibt es viele Menschen, die mir geholfen haben. Ohne sie hätte ich das nie erreichen können. Ich war z.B. nie in einem Deutschkurs, sondern habe selbst viel gelernt und Österreicher kennengelernt, die mich privat unterrichtet haben. In der Schule haben sie mir auch mit Gratisnachhilfe geholfen. Das ist alles eine große Hilfe für mich.
EDUCULT: Wie geht es Ihnen, wenn Sie an Ihre Heimat zurückdenken? Möchten Sie einmal zurückzukehren?
Bagher Ahmadi: Ich bin anpassungsfähig und kann gut mit Menschen umgehen. Es ist schwierig für mich, wenn die schlechten Erinnerungen hochkommen. Viele Fragen mich nach meiner Geschichte und ich muss sie immer wieder erzählen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass ich wieder in Afghanistan leben werde, außer wenn das Land eines Tages wieder so ist, wie es früher war. Früher waren alle frei und es gab keinen Krieg. Die Leute konnten in die Schule gehen und tragen und machen, was sie wollen.
EDUCULT: Sie leben seit drei Jahren hier in Österreich und haben selbst eine lange, schwierige Flucht hinter sich. Jetzt kommen plötzlich jeden Tag tausende neue Flüchtlinge an. Wie erleben Sie die aktuelle Situation?
Bagher Ahmadi: Die Leute kommen und sie haben sicher einen Grund dafür. Die meisten kommen wegen des Krieges. Ich finde es auch nicht gut, wenn sie alle kommen, aber was sollen sie sonst machen. Vorgestern haben die Taliban die afghanische Stadt Kunduz eingenommen. Sie haben die Stadt zerstört und die Frauen vergewaltigt. Die Regierungen können den Menschen nicht helfen und deshalb müssen sie weg, um zu überleben. Das alles ist auch für mich traurig. Das kann man nur verstehen, wenn man es selbst erlebt hat. Es gibt hier viele Leute, die die Menschen willkommen heißen. Es gibt auch andere, die dagegen sind, die haben sicher auch ihre Gründe dafür.
EDUCULT: Es gibt derzeit viele Diskussionen, gerade vor den Wahlen, über die Sorgen und Ängste der österreichischen Bevölkerung. Was würden Sie den Menschen antworten? Müssen sie Angst haben?
Bagher Ahmadi: Wieso haben sie Angst? Bezüglich ihrer Arbeitsplätze brauchen sie keine Angst haben. Die meisten Flüchtlinge können Ihren Job hier nicht so einfach ausüben. Ich war drei Jahre lang auf der Flucht und bin jetzt drei Jahre hier, habe also bisher sechs Jahre gebraucht. Wenn ich jetzt Matura machen und studieren will, dauert das nochmal so lange. Ich kann niemandem einen Job wegnehmen. Österreich kann auch von den Flüchtlingen profitieren, da sie auch hilfreich sein können für das Land. Ich kenne aber auch Leute, die leben fünf oder sechs Jahre lang nur in einem Flüchtlingsheim, bekommen 160 Euro im Monat und das Essen und werden einfach verrückt. Ich beobachte auch die Situation in Schweden. Dort muss ein Flüchtling zuerst die Sprache lernen und wenn er die Sprache kann, dann kann er in die Schule und später eine Ausbildung machen. Dann hat er viele Möglichkeiten. Das ist gut für ein Land, aber hier kenne ich viele Menschen, die nur schlafen und nicht Deutsch können. Das ist auch nicht gut für Österreich.
EDUCULT: Sie haben uns von Ihren Ambitionen erzählt, Schauspieler zu werden. Wollen Sie aber auch noch gerne in die Schule gehen und sich weiterqualifizieren?
Bagher Ahmadi: Ja, unbedingt. Ich möchte die Matura machen, aber ich möchte auch gerne Schauspieler werden. Ich war in einem Gymnasium in Österreich. Es war natürlich sehr schwierig für mich, besonders Deutsch, Englisch und Mathematik. Mit 18 Jahren musste ich dann das Heim verlassen und wurde nach Linz geschickt. Ich konnte den Pflichtschulabschluss nachholen. Dann habe ich die Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule bestanden und besuche diese nun seit März 2015. Ich könnte jetzt nebenbei in ein Abendgymnasium gehen, aber ich muss auch arbeiten und es geht sich derzeit alles nicht aus. Ich werde die Matura aber nachholen.
EDUCULT: Wir haben in Österreich viele Diskussionen darüber, wie man mit Zuwanderern in der Schule besser umgehen kann, gerade bezüglich der Sprachkenntnisse. Wie ist es Ihnen dabei gegangen, dem Unterricht zu folgen?
Bagher Ahmadi: Es war natürlich schwierig. Ich war in einer fünften Klasse, in der mehrere Sprachen unterrichtet wurden. Latein musste ich nicht mitmachen, aber Englisch, Spanisch und Deutsch. Ich musste also gleichzeitig drei neue Sprachen lernen. Das war sehr schwierig für mich. Man muss einfach immer lernen.
EDUCULT: Wie verlief die Zusammenarbeit mit den anderen Schülern?
Bagher Ahmadi: Mit manchen war es schwierig, z.B. bei Gruppenarbeiten. Ich war natürlich nicht so gut und deshalb wollten manche nicht mit mir zusammenarbeiten. Anfangs hat mir die Nachhilfe viel geholfen und im zweiten Semester ist es dann schon viel besser gewesen.
EDUCULT: Sie haben dann auch zusätzlichen Sprachunterricht erhalten?
Bagher Ahmadi: Nein, auch in den Deutschstunden war ich mit den anderen Österreichern zusammen. Ich hatte keinen Extraunterricht.
EDUCULT: Pflegen Sie heute, nach drei Jahren in Österreich, noch die afghanische Kultur in Ihrem Alltag oder haben Sie das ein Stück weit hinter sich gelassen?
Bagher Ahmadi: Mir ist das nicht so wichtig. Ich versuche nicht an Kulturen zu denken. Ich kenne z.B. viele Leute vom Sporttraining oder von Theatergruppen. Die meisten kommen aus Österreich oder aus anderen Ländern. Ich kenne natürlich auch Afghanen, aber ich habe mehr Freunde aus anderen Kulturen.
EDUCULT: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihre weitere Zukunft!
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