„Es herrscht Krieg zwischen Reich und Arm“¹
(Weltlauf von Heinrich Heine)
„Kultur für alle“ war einmal. Sie wurde abgelöst von einem Ausmaß an sozialer Ungleichheit, von dem sich die InitiatorInnen einer Neuen Kulturpolitik in den 1970er Jahren noch keinen Begriff machen konnten. Sie waren vielmehr getrieben vom Versprechen der Kultur für soziale Integration. Und müssen nun doch feststellen, dass ihre Bemühungen denjenigen, die es auf eine Verschärfung der Kluft zwischen Reich und Arm abgesehen haben, nur wenig entgegen zu setzen vermocht haben. (Der deutsche Kabarettist Georg Schramm zitiert in diesem Zusammenhang den US-Investor Warren Buffett, der von einem Krieg zwischen Reich und Arm spricht, den er zu gewinnen gedenke.)
Angesichts eines zunehmend unüberbrückbaren sozialen Auseinanderklaffens der europäischen Gesellschaften stehen Kulturpolitiker wie Hilmar Hoffmann vor den Trümmern ihrer konzeptiven Ambitionen, die sie unverbrüchlich daran glauben ließ, Kultur leiste einen unverzichtbaren Beitrag zum demokratischen Fortschritt. Dieser würde dafür sorgen, möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft zu gleichberechtigten Akteuren gesellschaftlicher Entwicklung zu machen. Kulturpolitik fungierte in diesem Kontext als ideologischer Überbau, mit dessen Hilfe eine Politik realisiert werden sollte, die allen Menschen nicht nur die materiellen, sondern auch die symbolischen und damit kulturellen Güter an die Hand gibt, um ihren spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten am Weiterbau einer Gesellschaft der Gleichberechtigten mitzuwirken; eben „Kultur für alle“.
Es ist anders gekommen. Auch die zunehmend dringlichen Zurufe der Kulturpolitik an den Kulturbetrieb, sich insbesondere um sozial benachteiligte Gruppen zu kümmern, vermochten es nicht, am Fortbestand eben dieser Benachteiligung zu rütteln. Es verstärkt sich der Eindruck, dass die spezifisch kulturpolitischen Vorstöße zur Einbeziehung bislang ausgeschlossener Gruppen kaum bis gar keinen Einfluss auf den Stand der Demokratieentwicklung nehmen konnten; richtiger scheint die Annahme zu sein, dass das Kulturverhalten der Bevölkerung vor 40 Jahren ebenso wie heute Art und Ausmaß sozialer Ungleichheit widerspiegelt und so mehr über den Zustand des chancenungleichen Zusammenlebens auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen erzählt, als dass es dieses beeinflussen würde.
Kulturpolitik galt als Fortsetzung von Sozialpolitik – Dann aber bedeutet der aktuelle Abbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit den Niedergang von Kultur
Diese Vorbemerkung ist notwendig, weil ohne sie eine Kulturpolitik, die als Fortsetzung von Sozialpolitik verstanden wurde, für den aktuellen Trend eines wachsenden Auseinanderdriftens der europäischen Gesellschaften mitverantwortlich gemacht werden müsste. Das gilt umso mehr, als die aktuellen Krisenerscheinungen drauf und dran sind, die mühsam errungenen demokratischen Errungenschaften des sozialen Ausgleichs in Frage zu stellen. Diese Entwicklung, die eine zunehmend unüberbrückbare Kluft zwischen entrückten Eliten und Prekarisierung der sozial Schwachen in Kauf nimmt, ist ein Schlag ins Gesicht derer, die angetreten sind, mit dem sukzessiven Ausbau des Wohlfahrtsstaates bestehende soziale Hierarchien zu überwinden und statt dessen Chancengleichheit bei der Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben herzustellen. Mit dem gegenwärtigen Abbau wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften scheint mehr denn je einer, die Gesellschaft mitgestaltenden Kulturpolitik der Boden entzogen.
„Refeudalisierung“ als Waffe der Reichen gegen den Rest der Welt
In der Hoffnung, die aktuellen Entwicklungen (samt ihren kulturellen Wirkungen) besser verstehen zu lernen, bin ich auf einen Aufsatz des deutschen Soziologen Sighard Neckel „Refeudalisierung der Ökonomie“ gestoßen. Der Begriff der „Refeudalisierung“ erscheint mir insofern von besonderer kulturpolitischer Relevanz, als die Aristokratie als ursprüngliche Trägerschicht feudaler Verhältnisse der Kultur einen ganz besonders hohen Stellenwert eingeräumt hat; in gewissem Sinn waren ihre Exponenten ja die Erfinder des Kulturbetriebs, an dessen luxuriösem Angebot sie sich in dem Maß erfreuen konnten, als sie von den Mühen des Arbeitslebens weitgehend befreit waren, während das subalterne, als kulturlos diffamierte Volk für die Aufrechterhaltung ihres aufwändigen Lebensstils aufkommen musste.
Wenn jetzt Neckel von einer Wiederauflage feudaler Verhältnisse spricht, dann bezieht er sich in erster Linie auf das Überhandnehmen einer finanzkapitalistischen Elite, deren Exegeten (und Nutznießer) scheinbar natürliche Vorrechte für sich beanspruchen, die sich demokratisch nicht legitimieren (und so auch nicht beeinspruchen) lassen. Neckel macht diese Entwicklung an den aktuellen ökonomischen Entwicklungen fest, die mir von großer kultureller Relevanz erscheinen.
Leistung lohnt sich nicht mehr – Was einzig zählt, ist der Erfolg
Da ist zum einen ein fundamentaler Wandel des Leistungsbegriffs, der bislang ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit begründet hat. Die damit verbundenen Wertvorstellungen orientieren sich heute immer weniger an Fragen der sozialen Angemessenheit und somit an der Idee der Leistungsgerechtigkeit. Stattdessen gelten „Selbstverantwortung“ und „Eigeninitiative“ als die neuen Leitbilder wirtschaftlichen Handelns. In der Wirkung reduzieren sich komplexe, weitgehend sozial determinierte Leistungszusammenhänge auf individualisierbare Erfolgskriterien, die sich in Geld und Status erschöpfen. Neckel spricht von einer „Subjektivierung der Wettbewerbsgesellschaft“, die langtradierte Verbindungen zwischen Kapitalismus und Bürgerlichkeit außer Kraft setzen.
Ein solches Auseinanderbrechen hat insofern unmittelbare kulturelle Konsequenzen, als damit ein Typus des Unternehmers die historische Bühne verlässt, der sich auch als Exponent fundamentaler bürgerlicher Werte verstanden hat. Er wird heute abgelöst von einem Spielertyp auf dem Feld des Finanzmarktkapitalismus, dem in seiner Gier nach individuellem Erfolg jeglicher Anspruch auf soziale und damit auch kulturelle Verantwortung abhandengekommen zu sein scheint.
Das Ende des Kulturbürgers ist nah
Die Konsequenzen zeigen sich dort, wo aktuelle Vertreter der Neuen Kulturpolitik wie Oliver Scheytt noch einmal so etwas wie „Kulturbürgerschaft“ beschwören, während der Eliteforscher Michael Hartmann längst konstatiert, dass den CEOs von heute kulturelle Ambitionen längst vergangen sind und sie sich stattdessen damit begnügen, in demonstrativem Konsum zu schwelgen. Als Role Models in entscheidenden Stellungen sind sie entsprechend auch nicht mehr in der Lage (bzw. willens) ihre kulturellen Vorlieben – und sei es in Form von Versprechen des sozialen Distinktionsgewinns – nach unten weiterzugeben. Als die neuen „sozial Schwachen“ repräsentieren sie vielmehr beispielhaft, dass es sich ohne Kultur sehr gut leben lässt, sofern man nur Erfolg hat. Die ExponentInnen einer kulturlosen Gesellschaft zeigen uns, wo es lang geht.
Es hat die längste Zeit als eine besondere demokratische Errungenschaft gegolten, dass Leistung durch Vergrößerung der Aufstiegschancen belohnt werden würde. Bei entsprechender Leistungsbereitschaft, so das große soziale Versprechen, sei es möglich, die Bürde allfälliger sozialer Benachteiligung zu überwinden und ein vollwertiges Mitglied des gesellschaftlichen Lebens zu werden. Geht es nach Neckel, dann führt die aktuelle „Refeudalisierung“ dazu, dass mehr und mehr Menschen von diesem Wettbewerb um persönlichen Erfolg von vornherein ausgeschlossen sind. Dies betrifft die anhaltende „Vererbung von Bildung“ ebenso, wie den Umstand, dass sich die oberen Funktionsschichten in einem hohen Ausmaß an Selbstrekrutierung üben, der auch noch so leistungsbereiten VerteterInnen aller anderen sozialen Schichten den Zutritt in den VIP-Sektor der Erfolgreichen verwehrt. Das aber führt dazu, dass sich aufgrund der aktuellen Form des vorrangig finanzkapitalistisch getriebenen Wirtschaftens soziale Formen der Verteilung von Einkommen, Anerkennung und Macht wieder vormodernen Mustern der sozialen Ordnung annähern.
Während für die unteren Schichten bis hin zur gesellschaftlichen Mitte die Aufstiegsmöglichkeiten zum Erliegen kommen, entstehen Parallelgesellschaften von Begüterten und Bevorteilten, die für sich eine scheinbar naturgegebene Bevorzugung beanspruchen. Dazu Neckel: „Eine der Blasen, die in der Finanzkrise geplatzt sind, ist die meritokratische Legitimation der Lebenschancenverteilung. Wo bürgerliche Privilegien kaum noch durch Verdienste zu rechtfertigen sind, wird der Adel zum Vorbild, der seine naturgegebenen Vorrechte in ästhetisches Kapital umgemünzt hat.“
Eine kulturlose Elite aus erfolgreichen Finanzjongleuren als neuer Hegemon
Das soziale Ergebnis, wie es sich in dieser Analyse darstellt, ist eine neue, die gesellschaftlichen Verhältnisse hegemonial bestimmende Gruppe, die auf Grund ihres exklusiven Status die Lebensgrundlagen aller anderen ebenso nachhaltig wie negativ zu beeinflussen vermag. Im großen Unterschied zur Aristokratie der Feudalzeit aber verfügt die Finanzaristokratie über nur sehr bescheidene kultureller Kompetenzen und auch über keine diesbezüglichen Ambitionen. Ihr Zugang zur Kultur beschränkt sich, vereinfacht gesagt, auf den Ankauf von Kunst zur Verwertung ihres Anlagevermögens und lagert diese in einbruchssicheren Tresoren.
Geht es also nach den zentralen Akteuren des aktuellen Wirtschaftssystems, dann tun wir gut daran, die Fahne einer Kulturpolitik, die noch einmal so etwas wie soziale Integrationsleistungen verspricht, nicht allzu hoch zu halten. Das tun im Moment ohnehin die Rechtspopulisten, die mit kulturellen Mitteln versuchen, aus den Restbeständen obsolet gewordener Bürgerlichkeit politisches Kapital zu schlagen.
Stattdessen könnte es helfen, entlang bislang weitgehend tabuisierter Entwicklungsszenarien, Kulturpolitik noch einmal radikaler zu denken. Immerhin weisen aktuelle Studien immer deutlicher darauf hin, dass es bereits in wenigen Jahren traditionelle soziale Gefüge der Arbeitswelt so nicht mehr geben wird. Geht es nach ihnen, dann werden bereits in wenigen Jahren rund die Hälfte aller zur Zeit noch ausgeführten Jobs durch eine wachsende Computerisierung hinweggefegt, ohne dass vorstellbar wäre, diese durch andere Formen von Beschäftigung ersetzen zu können. Sie glauben das nicht: Ein Blick auf die Entwicklung des Bauernstandes, der vor 50 Jahren noch rund 50% der Bevölkerung ausgemacht hat und jetzt gerade noch 3% beträgt, sollte das massenhafte Verschwinden von Arbeitsplätzen anderer Berufsstände nicht völlig ausgeschlossen erscheinen lassen. Trifft dieser Befund zu, dann kommen auf uns nicht nur kulturlose sondern auch arbeitslose Zeiten für weite Teile der Bevölkerung zu.
Aus der Schwäche eine Stärke machen – Der Krieg gegen das neue „Ancien Régime“ kann gewonnen werden
In diesem Zusammenhang habe ich ein unter dem Titel „Wir haben eine historische Chance“ überdenkenswertes Interview mit Albert Wenger, einem anderen Risiko-Investor in den USA gefunden. Auch er hält die weitgehende Übertragung menschlicher Arbeit auf den Computer für ein nicht mehr aufhaltbares gesellschaftliches Phänomen, vor dem zunehmend auch hochqualifizierte Berufe betroffen sein werden. Wenger setzt dabei selbst auf die Übertragbarkeit genuin menschlicher Kreativität, wenn künftig auch weite Teile der künstlerischen Produktion von Maschinen übernommen werden. Dies müsse aber nicht „automatisch“ zu einer weiteren Verelendung der weitgehend arbeitslos gewordenen Gesellschaften führen. Statt dessen spricht er – und löst hier im Sinne der kulturpolitische Versprechungen aus den 1970er Jahren ein marxistisches Versprechen ein – von einer Befreiung vom Zwang zur Arbeit als Voraussetzung für ein kulturell reiches und damit sinnerfülltes und selbstbestimmtes Leben: „Wir haben die historische Chance, Wissen und Kultur in einem Umfang zu erzeugen und zu teilen, die bisher undenkbar war“.
Wenn es für die Mehrzahl der Menschen nicht mehr notwendig ist, sich den Mühen der Arbeitswelt zu unterziehen, um die Früchte der Kultur genießen zu können, so könnte man es auch als eine Popularisierung eines aristokratischen Lebensstils interpretieren, der sich nicht darin erschöpft, angstbesetzt auf Arbeit zu warten, die ohnehin nicht mehr kommt, sondern ein auf der Grundlage arbeitsloser Grundeinkommen oder an alle weitergegebene Automatisierungsrenditen von arbeitsweltlichen Zwängen befreites Leben dafür zu nutzen, um seine/ihre kulturelle Bestimmung zu leben. Die materiellen Voraussetzungen würden freilich nicht mehr von einem niederen, zur Kulturlosigkeit bestimmten Volk, sondern von Maschinen erfüllt, deren Grenzkosten gegen Null tendieren würden.
Die Bilder, die sich mir auf diese Weise aufdrängen, beziehen sich nicht nur auf eine Weiterentwicklung einer „Kultur für alle“ zugunsten einer „Kultur von allen“. Sie erlauben auch die Aufrechterhaltung einer demokratischen Hoffnung, die darauf gerichtet ist, eine von Arbeitsleid befreite „Kultur von unten“ so stark werden zu lassen, dass sich der Hegemon ihr auf Dauer nicht zu entziehen vermag. Das wäre dann der Sturz des neuen kulturlosen „Ancien Régime“.
¹ Warren Buffett
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