Kultur und das soziale Unbewusste (Terry Eagleton)
In diesen Tagen fand an der Akademie Wolfenbüttel ein afrikanisch-europäisches Gespräch zum Thema „Kulturpolitik und Kulturelle Bildung“ statt. Auffallend war für mich zuallererst, dass sich die Kolleg*innen aus dem afrikanischen Kontinent einer ganz ähnlichen Rhetorik wie ihre deutsch-europäischen Gesprächspartner*innen bedient haben: Und so wurden einmal mehr alle hochpathetischen Phrasen im besten Pidgin-Englisch aufgeboten, um „Kultur“ als Generalschlüssel zur Verbesserung der Verhältnisse – ganz gleich ob hier oder dort – zu propagieren. Im geschlossenen Ambiente des Veranstaltungsraums trafen die gut gemeinten Beschwörungen von Frieden und Entwicklung mit Hilfe Kultureller Bildung rasch auf ein zunehmend apathisches Publikum. In gelangweilter Schüler*innen-Manier wandte es sich möglichst verdeckt ihren Handys zu, um unter dem Deckmantel der Anonymität ganz anderen Geschäften nachzugehen.
Im Verlauf der Veranstaltung artikulierte eine Reihe von Sprecher*innen das Problem, dass es in ihren Ländern zwar gut ausformulierte Politiken zugunsten Kultureller Bildung gäbe, diese aber in aller Regel nicht implementiert würden. Dieses Dilemma fand im Verhältnis zwischen Präsentator*innen und Publikum ungewollt seine symbolische Entsprechung. „Papier ist geduldig“, heißt es. Ähnliches gilt offensichtlich auch für eine Rede, die im idealistisch aufgeladenen Kulturdiskurs besonders gefährdet erscheint, sich zu verselbständigen und damit seine Adressat*innen zu verfehlen.
Mir als Europäer schien dieses Auseinanderdriften von Rhetorik und Realität dort besonders bedenklich, wo dieses in den kolonialen Kontext des Verhältnisses von Europa und Afrika eingebettet werden muss. Auch (oder gerade) wenn im Rahmen der Bemühungen der UNESCO versucht wurde, zumindest die Grundzüge eines global gemeinsamen Verständnisses von Kultureller Bildung zu schaffen, so scheinen mir diese spätestens nach dieser Veranstaltung vor allem den Vertreter*innen des Südens kolonial ziemlich aufgestülpt. Als Ausdruck von Höflichkeit bedienen sich die afrikanischen Kolleg*innen – in der Hoffnung auf Akzeptanz – einer europäischen Sprachregelung, die konkrete Anknüpfungsmöglichkeiten tunlichst vermeidet. Die verhängnisvolle Wirkung besteht im Zeigen einiger schöner Bilder spielender, tanzender und singender junger Afrikaner*innen, die über das, was kulturell vor Ort wirklich der Fall ist, ausschließlich klischeehafte Aussagen zulassen: Hauptsache den Europäer*innen gefällt es.
Kulturelle Bildung heißt zuallererst Ver-lernen
In den Sinn kam mir in diesem Zusammenhang der Vortrag der indischen Literaturwissenschafterin Gayatri Spivak bei den letzten Wiener Festwochen „What is the time on the clock of the world?“, der am Beginn einer mehrtägigen „Akademie des Verlernens“ stand. Als vehemente Exponentin des postkolonialen Diskurses brach sie dort eine Lanze für das „Verlernen“ („Unlearning“, „Verlerning“) als eine unabdingbare Voraussetzung für ein besseres gegenseitiges Verstehen. Übertragen auf die Wolfenbütteler Veranstaltung macht ihr Plädoyer für „Verlerning“ (eine Wortschöpfung von Spivak) unmittelbar klar, dass die Übernahme ebenso gut gemeinter wie hohler westlicher Phrasen zur Bedeutsamkeit Kultureller Bildung das Gespräch über die jeweiligen kulturellen Besonderheiten eher erschwert als erleichtert. Dazu gehört auch das Anerkenntnis, dass bestimmte westliche Metaphern, wie z.B. die ihrem Vortrag den Titel gebende „What is the time on the clock of the world?“ in unterschiedlichen kulturellen Kontexten völlig unterschiedlich oder einfach gar nicht verstanden wird.
Spätestens mit Spivak wurde mir nochmals bewusst, wie schwierig es ist, jeweils konkrete Formen der Kultur von einer Sprache in die andere zu übersetzen und wie gefährlich dabei Metaphern sein können, die ein gemeinsames Verständnis vorspiegeln, um die dahinter liegenden elementaren Unterschiede erst gar nicht anzusprechen.
Dieses Dilemma ist einigen Vertreter*innen der Kulturellen Bildung seit vielen Jahren bewusst. Einige von ihnen haben sich nach der Verabschiedung der „UNESCO Roadmap for Arts Education“ zu einer Initiative „Another Roadmap for Arts Education“ zusammengeschlossen. Im Rahmen dieses Projekts bemühen sie sich in zum Teil mühevoller Kleinarbeit, „den globalen Transfer von Konzepten kultureller Bildung im kolonialen und postkolonialen Zusammenhang historisch zu untersuchen und die gegenwärtige Dominanz westlich/nördlicher Konzepte von Arts Education kritisch zu hinterfragen“.
Eine wesentliche Mitwirkende an diesem Projekt ist Carmen Mörsch, die damals zusammen mit Ulrich Schötker die Vermittlungsaktivitäten der documenta 12 im Jahr 2007 geleitet hat. Unter dem Titel „Was tun?“ war es dem Intendanten Roger M. Buergel ein besonderes Anliegen, das Ausdrucksmittel „Kunst“ darauf hin zu überprüfen, ob und wenn ja in welcher Weise es zu so etwas wie einem gemeinsamen Weltverständnis beizutragen vermag. Entsprechend standen Fragen wie „Ist die Menschheit imstande, über alle Differenzen hinweg, einen gemeinsamen Horizont zu erkennen? Ist die Kunst das Medium dieser Erkenntnis? Was ist zu tun, was haben wir zu lernen, um der Globalisierung seelisch und intellektuell gerecht zu werden? Ist das eine Frage ästhetischer Bildung? Hilft uns die Kunst auf die Sprünge, um zum Wesentlichen zu gelangen?“ im Zentrum der Vermittlungsbemühungen.
Schlechte Kulturelle Bildung ist schlechter als gar keine Kulturelle Bildung
Und noch eine andere Dimension der Forschungen von Carmen Mörsch ist mir im Zusammenhang mit der Veranstaltung eingefallen. In ihrem Text „Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen“ unterscheidet sie zwischen vier Dimensionen von Vermittlung: Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation. Spätestens mit diesem Unterscheidungsversuch wird klar, dass es Kulturelle Bildung per se gar nicht gibt, sondern diesbezügliche Bemühungen immer getragen sind von ganz unterschiedlichen kulturpolitischen Absichten, die von der Bestätigung der bestehenden (oft alles andere als friedlichen und Entwicklung begünstigenden) Verhältnisse über deren Infragestellung bzw. Überwindung reichen können. Gerade in der Dimension der Dekonstruktion habe ich Ähnlichkeiten mit Spivaks Empfehlung des „Verlernings“ wieder entdeckt, wenn die diesbezügliche Motivation gerade nicht darin besteht, bestimmte Vorgaben unreflektiert zu übernehmen, sondern sie als das zu begreifen, was sie zumindest auch sind: als Ausdruck von Herrschaftsbeziehungen. In diesen Zusammenhang passt auch der zentrale Satz in Anne Bamfords erstem Versuch eines globalen Vergleichs Kultureller Bildung, wonach nicht jedes Angebot der Kulturellen Bildung als in jedem Fall gut eingeschätzt werden kann und demnach eine schlechte Kulturelle Bildung schlechter sei als gar keine.
Jede/r Teilnehmer*in in Wolfenbüttel war eingeladen, zu diesem europäisch-afrikanischen Dialog einen bezeichnenden Gegenstand mitzubringen, der in besonderer Weise das Verhältnis zu Kultureller Bildung verdeutlichen könnte. Ich habe auf meinem Schreibtisch einen Stein gefunden. Als ich ihn nach langer Zeit wieder in die Hand nahm, fiel mir auf, dass ich nicht mehr weiß, von wo ich den mitgenommen habe bzw. warum der überhaupt da liegt. Ich habe es schlicht und einfach vergessen und kann nur annehmen, dass er ursprünglich als eine Erinnerung an einen schönen, vielleicht aber auch misslungenen Aufenthalt gedacht war, dessen Details mir in keiner Weise mehr präsent sind bzw. ich nicht mehr auf das Objekt des Steins zu beziehen vermag.
„Kultur“ ist im Wesentlichen das, woran wir uns NICHT erinnern
Es trifft sich, dass ich im Moment gerade Terry Eagletons‘ Essay „Kultur“ lese, in dem er sich noch einmal auf eine Reise in die europäische Geistesgeschichte macht, um das, was vor allem Kulturwissenschafter*innen unter „Kultur“ verstehen, besser fassen zu können. Besonders hängengeblieben bin ich beim Kapitel „Das sozial Unbewusste“, in dem er die Vermutung äußert, dass uns nur der geringere Teil von „Kultur“ bewusst bzw. in Gestalt von sinnlich erfahrbaren Manifestationen begreif- und damit erfahrbar wird. Der größere Teil hingegen bleibt im Unbewussten und grundiert doch in wesentlicher Weise unsere Alltagsexistenz. Eagleton spricht von einer „fraglos hingenommenen Textur“, einem „nie ganz fassbaren Kontext“, der uns zwar in einem hohen Ausmaß konstituiert und unserem Sprechen und Handeln Sinn gibt und uns doch nur in Ansätzen bewusst wird. „Kultur“ als Eisbergphänomen also, im Rahmen dessen wir uns zwar anhand einzelner ausgewählter Artefakte verständigen können und doch dabei berücksichtigen müssen, dass es sich dabei nur um eine kleine Spitze von etwas handelt, das weitgehend im Verborgenen bleibt.
Übertragen auf mein Mitbringsel bedeutet diese Interpretation, dass der Stein nur ein kleiner, aber sichtbarer Teil einer Erfahrung ist, die mir als bewusstes Erlebnis abhandenkam. Das bedeutet aber nicht, dass das, was geschehen ist, nicht als Teil meines Unbewussten weiterwirken würde. Seit Sigmund Freud wissen wir, dass das vergessene Vergangene im Zusammenwirken mit all den anderen – nicht mehr erinnerten – Erfahrungen meine (kulturelle) Existenz in ihrer Gesamtheit überhaupt erst ausmacht. Fraglos orientiert sich Eagleton dabei an der Psychoanalyse und spricht dem „Ich“ – und damit dem, was wir als „Kultur“ bewusst erfahren können – eine beträchtliche Blindheit dafür zu, was die Beschränktheit dieser bewussten Erfahrung betrifft: „Das, was zur Bildung des „Ich“ beiträgt, kann nicht Teil dieses „Ichs“ sein. Es entsteht nur durch eine schmerzliche Verdrängung gerade der Prozesse, die es konstituieren – ein Trauma, von dem es sich nie erholen wird“.
Und was mit all den Grauslichkeiten, die den Bodensatz von „Kultur bildet?
Es mag da oder dort überzogen wirken, tiefenpsychologische Analysen der individuellen Natur des Menschen auf soziale und damit auch kulturelle Verhältnisse zu übertragen. Und doch scheint mir die damit verbundene Einsicht, dass weite Teile dessen, was wir unter „Kultur“ verhandeln, der bewussten Erfahrung nicht oder bestenfalls verzerrt zugänglich sind, eine herausragende Möglichkeit, einem stereotypen Diskurs über „Kultur“ und damit auch über „Kulturelle Bildung“ zu entkommen. Immerhin wird niemand ernsthaft die Meinung vertreten, im individuell Unbewussten versammelten sich nur die positiven Anteile des Menschen. Stattdessen spricht fast alles dafür, dass das „Es“ zuallererst einen Ort ganz widersprüchlicher Gefühle repräsentiert, in die all die unbewussten positiven ebenso wie negativen Erfahrungen im Verlauf des Lebens eingegangen sind. Also nix mit ausschließlicher Friede, Freude, Eierkuchen. Stattdessen Verlust, Gewalt, Bösartigkeit, zum Teil traumatische Erfahrungen, an die wir uns um (fast) keinen Preis mehr erinnern wollen. Gesellschaftsanalytisch würde das bedeuten, all die ins Vergessen geratenen traumatischen Anteile wie Krieg, Gewalt, Konflikt, kollektive Diskriminierung und strukturelle Ungleichheit als ebenso bedeutende Anteile der jeweiligen „Kultur“ anzuerkennen wie die sublimen Hervorbringungen gefeierter Künstler*innen.
Die Akzeptanz eines sozial Unbewussten würde freilich bedeuten, Abschied zu nehmen von einer „Kultur“, die sich auf die Erzählung vom Zusammenleben in eitler Wonne beschränkt. Immerhin eröffnet Earletons Konzept einen – im wahrsten Sinn – ungeheuren Raum, in dem sich nicht nur die positiven, sondern in gleicher Weise auch all die gesellschaftlichen Erfahrungen verbergen, an die sich eine Gesellschaft auf Teufel komm raus nicht mehr erinnern will. Eagleton: „Staaten, die selbst zu Zeiten, an die sich die Lebenden noch erinnern können, durch Blutvergießen gegründet wurden, hätten ein akutes Legitimitätsproblem, vertrauten sie nicht auf kollektiver Amnesie, die selbst Verbrechen aller Art zu alten Weggefährten machen würden.“
Unter dem Eindruck dieser Lektüre geht meine Vermutung dahin, dass das, was wir unter „Kultur“ verhandeln und im Rahmen von „Kultureller Bildung“ vermitteln wollen, vor der Entscheidung steht sich entweder weiter in rhetorischer Überzeugungsarbeit zugunsten ihrer ausschließlich positiven Wirkungen zu ermüden – und damit weiter an Glaubwürdigkeit bei allen nicht unmittelbar Involvierten zu verlieren. Oder aber genauer hinzuschauen und sich dabei auch auf die weniger positiven Aspekte des sozial Unbewussten einzulassen und dafür neue – der Erinnerungsarbeit entsprechende – Formen der Auseinandersetzung zu entwickeln.
Kulturelle Bildung ist in Gefahr, das Gegenteil von dem zu bewirken was sie behauptet
Wenn der ehemalige freiheitliche Europaabgeordnete Andreas Mölzer jüngst auf die Frage, warum es in der Burschenschaft Germania möglich war, noch 1997 ein Liederbuch mit extrem antisemitischen Inhalten zu drucken, süffisant gemeint hat, man wäre damals noch nicht so sensibel gewesen, weil das halt Teil der Kultur gewesen sei, dann kommen wir den eher weniger erfreulichen Ingredienzien von „Kultur“ schon näher. Und lernen aus dieser Form rechtsextremer „Aufrichtigkeit“, dass ein bloß affirmativer, die ausschließlich positive Konnotation herausstreichender Zugang zu „Kultur“ die wahre Bedeutung dessen, was gemeint ist, eher entstellt und verbirgt als es in Frage zu stellen und zu überwinden. Eagletons Befund: Mit der Verweigerung, sich auch mit den unbewussten (und damit auch den wenig erfreulichen) Anteilen von „Kultur“ zu beschäftigen, stehen wir „im strukturellen Gegensatz zu dem, was wir zu tun behaupten“.
In Wolfenbüttel sind sich Menschen aus Europa und aus Afrika unmittelbar begegnet. In der Beschwörung einer gemeinsamen Sprache sind wir einander weitgehend fremd geblieben. Aber vielleicht liegt gerade daran der Erfolg der Veranstaltung: In der Anerkennung einer unhintergehbaren Andersheit, die wir erst einmal lernen müssen, als (kulturelle) Unterschiede auszuhalten, ohne gleich das rhetorische Pflaster vorgeblicher kultureller Gemeinsamkeiten aufzulegen.
Ja, es gibt Gemeinsamkeiten. Die aber liegen gerade nicht in der Beschwörung von „Kultur“ sondern dort, wo wir „Kultur verlernen“ und uns auf die Durchsetzung zentraler zivilisatorischer Errungenschaften wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder der Gleichheit der Geschlechter als transkulturelle Prinzipien des globalen Zusammenlebens verständigen.
Der große Rest bleibt wohl – für immer – im Unbewussten.
LETZTE BEITRÄGE
- Hilfe, die Retter nahen
- Kunst, Kultur und Grenzen – Warum Grenzen für ein lebendiges Zusammenleben notwendig sind
- Alles neu macht der Mai – Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich
- Hype um Chat GPT
- Die Autonomie der Kunst
- Liberale Bürgerlichkeit, hedonistische Massendemokratie oder antidemokratischer Autoritarismus
- Dürfen die das?
- Kulturpolitik in Zeiten des Krieges
- „Das Einzige, was uns zur Zeit hilft, das sind Waffen und Munition“
- Stehen wir am Beginn eines partizipativen Zeitalters? (Miessen)