Warum betreiben Kunst- und Kultureinrichtungen kein Lobbying für die „tägliche Kunststunde“
Bei den Olympischen Sommerspielen in London haben die österreichischen AthletInnen nicht gut abgeschnitten. Nur ein paar Monate später kam es im Parlament zu einer 6-Parteien-Einigung, mit der sich das Hohe Haus unisono für die Einführung einer täglichen Turnstunde in den Schulen ausgesprochen hat. Dazwischen hatten die österreichischen Sportorganisationen, unter ihnen 60 Fachverbände, zusammen mit dem Österreichischen Olympischen Kommittee heftig lobbyiert und u.a. eine Unterschriftenaktion gestartet, die in kurzer Zeit über 100.000 UnterzeichnerInnen erbracht hatte. Zusammen ist es ihnen gelungen, ein breites öffentliches Interesse auf die Einführung der „täglichen Turnstunde“ in Kindergärten und Schulen zu lenken.
Die zuständige Ministerin Claudia Schmied begrüßte das Ergebnis, weil „Sport und Bewegung einen enormen Stellenwert in der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen habe und zudem eine weitere Dynamik in den Ganztagesschul-Ausbau brächte“. Viele LeserbriefschreiberInnen, vor allem in den Boulevardmedien, kamen noch zu viel weitreichenderen Schlüssen: Würden mehr Turnstunden stattfinden, könnte man leicht auf andere Fächer, vor allem auf Musik und Bildnerische Erziehung verzichten. Dies umso mehr, als Turnen ähnlich positive Effekte habe, wie etwa der Steigerung der allgemeinen Lernbereitschaft, der Konzentrationsfähigkeit oder der Verbesserung des Sozialverhaltens.
England prescht vor: Kunst raus aus der Schule!
Szenenwechsel: In diesen Tagen wurde in London der wichtigste Preis für zeitgenössische Kunst, der Turner-Preis, vergeben. Die ausgezeichnete Künstlerin Elisabeth Price machte in ihrer Dankesrede ihrer Verärgerung über nachhaltige Verschlechterungen des Kunstunterrichts an englischen Schulen Luft: „Es ist unglaublich deprimierend, wenn man Leute sagen hört, dass ein Mädchen aus Luton, die auf eine Gesamtschule geht, sich heute gar nicht mehr vorstellen könnte, Künstlerin zu werden und nicht die gleichen Chancen bekäme als ich sie hatte“.
Und der prominente Preisverkünder Jude Law wurde noch deutlicher, wenn er die britische Regierung des „Kulturvandalismus“ beschuldigt, die die Verantwortung dafür trage, dass der Kunstunterricht im Schulkurrikulum marginalisiert würde. Er bezog sich dabei auf konkrete Pläne des amtierenden britischen Bildungsministers Michael Gove, der den bisherigen Schulabschluss durch ein Zentralabitur ersetzen möchte. Bei der Bewertung sollen Kunst, Theater und Musik überhaupt keine Rolle mehr spielen und brauchen daher im Unterricht auch nicht mehr angeboten werden: Mit dem „English Baccalaureate“ würde – jedenfalls nach Gove – „eine neue Epoche anbrechen“, in der allein praxisbezogene Fächer wie Mathematik, English, Naturwissenschaften und Sprachen für den Abschluss zählen. Die Künste hingegen sollen sich die restlichen, wie er meint für ein Reüssieren auf dem Arbeitsmarkt bedeutungslosen 20% des Lehrplans mit Sport und Haushaltslehre teilen.
Dieser Versuch der weitgehenden Eliminierung einer intensiveren Beschäftigung mit Kunst und Kultur in der Schule stellt eine radikale Kehrtwendung einer bildungspolitischen Ausrichtung des englischen Schulwesens dar, das vor einem Jahrzehnt mit Programmen wie „Creative Partnerships“ eine nachhaltige Schulentwicklung zugunsten einer breiten Kreativitätsförderung in Gang gesetzt hat und dabei für ganz Europa beispielgebend gewesen ist (das jüngste Beispiel dafür stellt das Projekt „Kulturagenten“ dar, das jüngst in fünf deutschen Bundesländern aufgelegt wurde, um die Beschäftigung mit Kunst und Kultur zu einem integralen Bestandteil jeglichen Lernens zu machen).
Die Verwirklichung eines „Creative Britain“ wurde zuletzt im Rahmen des beeindruckenden Kulturprogramms der Olympischen Spiele äußerst erfolgreich zelebriert. Damit soll jetzt Schluss sein, damit Kunst und Kultur sich wieder auf ihren angestammten Platz beschränken, dort wo die, die es sich leisten können, ein attraktives Freizeitangebot erwarten. Und so kämpfen mittlerweile viele Kunst- und Kultureinrichtungen, vor allem außerhalb von London, auf Grund massiver Sparmaßnahmen ums blanke Überleben.
Vom Sport lernen: Gemeinsames Lobbying des Kulturbetriebs für eine Verbesserung des Kunstunterrichts
Nun ist nicht davon auszugehen, dass Price und Law mit ihrem Engagement gegen das Wiedererstarken einer „kunstlosen“ Bildungspolitik kurzfristig das Ruder noch einmal herumzureißen vermögen. Der britische Schatzkanzler George Osborne hat bereits angekündigt, dass es zu weiteren Einschnitten kommen wird. Und doch lässt mich diese Form der Würdigung von Kunstunterricht in der Schule aus dem Munde von KünstlerInnen in England fragen, warum das Thema in Österreich nicht ähnlich prominent verhandelt wird.
Was spricht denn dagegen, dass sich – analog den österreichischen Sportorganisationen – die wesentlichen Kunst- und Kultureinrichtungen zusammenschließen und die Öffentlichkeit mit der Forderung nach einer „täglichen Kunststunde“ befassen. Die LehrerInnen, die sich – oft gegen beträchtliche Widerstände – bemühen, Kunst und Kultur in der Schule einen größeren Stellenwert einzuräumen, könnten die Unterstützung einer gut meinenden Öffentlichkeit gut gebrauchen. Und auch für die Einrichtungen ergäben sich beträchtliche Vorteile, sei es dadurch das Interesse für ihr Angebot in die Schulen zu erhöhen oder sei es, SchülerInnen Anregungen für eine künstlerische Berufswahl zu geben.
Diese Art von Lobbying aber findet nicht statt. Trotz der Losung der amtierenden Bundesministerin, bis 2013 (also recht bald) solle jede Schule eine Kooperation mit einer Kultureinrichtung eingegangen sein, überwiegt – gelinde gesagt – vornehme Zurückhaltung. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Sie liegen vielleicht in der zunehmenden Konkurrenzsituation der Kultureinrichtungen untereinander, die es ihnen schwer macht, eine gemeinsame Initiative zu entwickeln. Möglicherweise überwiegt nach wie vor eine kritische Haltung gegenüber der Art und Weise, wie in der Schule Kunst und Kultur verhandelt werden.
Vielleicht aber sehen sich die Einrichtungen gar nicht in einer diesbezüglichen gesellschaftlichen Verantwortung und orten überhaupt keinen gemeinsamen Handlungsbedarf. Immerhin gibt ja ohnehin die Aktion „Freier Eintritt für junge Menschen in die österreichischen Bundesmuseen“ und die anderen Einrichtungen wie Konzerthäuser, Theater, Kinos oder freie Initiativen sollen jede für sich schauen, wie sie mit ihren Publika zurande kommen.
Partnerschaften zwischen Schule und Kultureinrichtungen – wozu?
Die kultur- und bildungspolitische Erwartung einer vielfältigen Zusammenarbeit zwischen Schule und Kultureinrichtungen offenbart aber noch ein anderes Problem, auf das die LeserbriefschreiberInnen zur täglichen Schulstunde auf schmerzliche Weise hingewiesen haben. Es besteht schlicht in der Frage des „Warum“ bzw. des „Wozu“. Immerhin liefert die Forderung nach einer quantitativen Ausweitung neuer Zusammenarbeitsformen noch nicht die Erarbeitung bzw. Begründung damit verbundener Lernziele und schon gar nicht, ob sich diese entlang rein organisatorischer Vorgaben bestmöglich realisieren lassen. Wenn sich mit einer täglichen Turnstunde innerhalb der Schule ganz ähnliche Lernergebnisse erzielen lassen, warum sollen sich dann Schulen der Mühe unterziehen, mit Einrichtungen außerhalb ihres unmittelbaren Einflussbereiches zusammenzuarbeiten?
Diese inhaltliche Frage, warum Partnerschaften angestrebt werden sollen, stand auch im Zentrum der jüngsten Tagung zum Programm p(ART) von KulturKontakt Austria. Dies umso mehr als sich die Förderung solcher Kooperationsmodelle (in diesem Fall durch KulturKontakt Austria) notwendigerweise auf einige wenige Schulen bzw. auf einen begrenzten Zeitraum beschränken muss, ein Umstand, der jedes Bemühen um eine strukturelle Verankerung erschwert. Entsprechend deutlich wurde das große Ausmaß an Wissensgenerierung (auch anhand praxisorientierter Forschung), das es noch braucht, um nicht nur die Forderung aufzustellen, dass Schulen mit Kultureinrichtungen zusammenarbeiten sollen, sondern auch konkret anzugeben, welche spezifischen, nur im Rahmen einer außerschulischen Beschäftigung mit Kunst und Kultur erreichbaren Lernziele (die nicht wesentlich einfacher im Rahmen eines ausgeweiteten Turnunterrichts zu haben sind) damit verbunden werden können.
Über die politische Verwechslung des Einzelnen mit dem Ganzen
Österreichs Bildungspolitik ist nicht erst seit gestern berühmt dafür, Projekte mit einigen wenigen TeilnehmerInnen aufzusetzen, um auf diese Weise behaupten zu können, in dem oder jenem Bereich würde ohnehin etwas unternommen (auch wenn der überwiegende Teil der Schulen/LehrerInnen/SchülerInnen davon überhaupt nicht betroffen ist). Nur in den allerseltensten Fällen geling es, diese Initiativen über eine Pilotphase hinweg breit und damit auf nachhaltige Weise zu verankern. Stattdessen wird an einzelnen Standorten das Rad immer wieder neu erfunden und so eine Rhetorik aufrecht erhalten, der zufolge ja ohnehin etwas passiert ohne dass sich deswegen schon etwas grundlegend verändern muss.
Die Einigung auf die Abhaltung einer „täglichen Turnstunde“ (auch wenn viele Schulstandorte jede Menge Argumente dafür finden werden, warum das ausgerechnet bei ihnen nicht möglich ist) stellt damit auch eine besondere Herausforderung für den Kunst- und Kulturbereich dar, wenn darum geht, die Beschäftigung mit Kunst und Kultur nicht nur einigen besonders Engagierten im Rahmen von ausgewählten Pilotprojekten zu überlassen sondern diese auch strukturell zu verankern und damit stärker ins Zentrum des Schulgeschehens zu rücken.
Schulen geben Auskunft, welchen Stellenwert sie Kunst und Kultur geben
SkeptikerInnen werden entgegnen, dass ein flächendeckender Anspruch am wachsenden Autonomieanspruch der einzelnen Schulen scheitern muss. Diese Einschränkung aber schließt nicht aus, Anreize zu schaffen, die über die Priorisierung einiger weniger Engagierter hinausweisen.
Mein Vorschlag: Die Einführung eines „Art Improvement Plans“, der alle österreichischen Schulen zumindest einmal im Jahr dazu verpflichtet, Auskunft darüber zu geben, welche Maßnahmen sie gesetzt haben, um den Stellenwert von Kunst und Kultur an ihrem Standort zu verbessern. In einem solchen Setting können die einzelnen Schulstandorte selbst darüber entscheiden, welche konkreten Maßnahmen sie setzen wollen, ob sie die Zusammenarbeit mit einer Kultureinrichtung suchen, eine tägliche Kunststunde einführen oder KünstlerInnen einladen, neue Formen des Mathematikunterrichts zu erproben. Diese Freiheit hätte den Effekt, das nicht nur etwas passiert sondern auch alle Schulpartner zugunsten einer gemeinsamen Lernzieldefinition sensibilisiert werden, wenn es um die vielfältigen Möglichkeiten (und ihre spezifischen Begründungen) geht, sich mit Kunst und Kultur in der Schule zu beschäftigen und diese für eine nachhaltige Schulprofilbildung zu nutzen.
Diesbezügliche MitstreiterInnen würden zumindest die Botschaft von KünstlerInnen verstehen, wenn diese ihre Popularität dafür nutzen, um vor den Gefahren einer sich der Kunst abwendenden Politik warnen. Das Beispiel England zeigt, dass ein diesbezüglich überwiegend parteipolitisch begründeter Bedeutungswandel von Kunst und Kultur in und außerhalb der Schule (auch angesichts noch so vieler rationaler Argumente, die dagegensprechen) schneller kommen kann als wir das (noch) für möglich halten.
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