
ACHTUNG: Konservative Geisterfahrer unterwegs
Vor einer Woche fand eine Regierungsklausur statt, die von der Forderung nach einer flächendeckenden Einführung der Ganztagsschule in Österreich geprägt war. Bundesministerin Schmied forderte zur diesem Zweck 80 Mio. an zusätzlichen Budgetmitteln – ein Ansinnen, das seitens des konservativen Koalitionspartners mit einem Hinweis auf die Sparziele der Bundesregierung postwendend zurückgewiesen wurde. Seither arbeitet die ÖVP an weiteren Hürden wie einem Vetorecht von LehrerInnen, die verhindern sollen, dass ganztägige Lehr- und Lernformen möglichst allen SchülerInnen zugute kommen können.
Nur eine Woche später – und ohne jede Regierungskontroverse – stellt der amtierende ÖVP-Obmann der Öffentlichkeit sein Konzept einer Neuregelung der Pendlerpauschalen vor. Erste Kosteneinschätzung: 110 Mio. und kein Wort, woher die zusätzlichen Mittel kommen sollen und wie mit diesen Mehrausgaben die angestrebten Sparziele erreicht werden können.
Den Begriff „Ganztagsschule“ gibt es in anderen Sprachen überhaupt nicht (mehr)
Das Match lautet also: Verbesserte Lernchancen für Kinder versus Förderung des Individualverkehrs. Da Bundeskanzler Faymann bereits weitgehende Zustimmung zur allgemeinen Geldverteilung (nach der Devise: je höher das Einkommen, desto größer der Förderanteil) signalisiert hat, schaut es so aus, als würde die österreichische Bundesregierung einmal mehr Autos (bzw. deren BesitzerInnen) einen größeren Wert beimessen als Kindern. Daran ändert auch die Einschätzung des Erziehungswissenschaftlers Karl Heinz Grüber in seinem Beitrag im Standard „Ganztagsschule: Schränken statt Denken“ nichts, der in diesem die Rückständigkeit des österreichischen Schulsystems mit der Aussage, in anderen Sprachen gäbe es den Begriff der „Ganztagsschule“ überhaupt nicht, weil sich anderswo „Schule“ als ein ganztägiges Angebot von selbst verstehe, auf den Punkt gebracht hat.
Angesichts des Umstands, dass die meisten (konfessionellen) Privatschulen als Kaderschmiede der Konservativen traditionell (entgeltlichen) Nachmittagsunterricht anbieten, können diesbezügliche politische Entscheidungen nur so interpretiert werden, dass es Spindelegger und Co. Kindern aus Familien, die nicht zur konservativen StammwählerInnenschaft der ÖVP zählen, die Teilnahme an einem verbesserten Unterrichtsangebot möglichst schwer machen möchte, während es für Ihresgleichen (die in der Regel kein Problem damit haben, zusätzliches Schulgeld aufzubringen) längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Für alle anderen gibt es ja – sei es im Auftrag der Autolobby oder einiger Landeshauptleute – ein Wahlzuckerl rechtzeitig vor einem entscheidenden Wahljahr, auf dass „nichts passiert“.
„Arbeiterkinder“ haben es schwerer
Apropos soziale Ungleichheit: Vor einigen Tagen veranstaltete die Initiative „Bildung GRENZENLOS“ eine Diskussionsveranstaltung „Ausgebremst – Bildungschancen als Erbrecht oder als Menschenrecht?“, die darauf aufmerksam machen wollte, wie sozial selektiv das österreichische Schulsystem funktioniert. Es räumt nach wie vor Kindern aus Nicht-AkademikerInnen-Haushalten signifikant geringere Chancen beim Bildungserwerb ein als solchen von hoch- und höchstqualifizierten Eltern. Im Mittelpunkt stand die Vorstellung der von Katja Urbach ins Leben gerufenen deutschen Initiative „Arbeiterkind“, die sozial benachteiligte Jugendliche dazu ermutigt, sich weiter zu qualifizieren, vielleicht sogar eine akademische Karriere anzustreben. (Sie lässt sich dabei von einem „weiten Arbeiterbegriff“ leiten, der dem Umstand Rechnung trägt, dass die Gegebenheiten in traditionellen Arbeitermilieus heute zunehmend von Migrationsproblemen überlagert werden; was bleibt sind die anhaltend schlechten Bildungschancen für Kinder aus nichtprivilegierten Milieus.)
Die Initiative, die in Deutschland unmittelbar nach ihrer Gründung auf großes öffentliches Interesse gestoßen ist, reagiert auf Ergebnisse der Bildungsforschung, die für viele junge Menschen eine Reihe struktureller Nachteile im Bildungserfolg konstatiert hat, die u.a. in zu frühen Laufbahnentscheidungen, in der bestehenden Differenzierung des Schulsystems, in einer zu kurzen Pflichtschuldauer aber auch in einer unzureichenden Ausbildung der LehrerInnen im Hinblick auf kulturelle Sensibilität liegen.
Es war berührend, die Bildungskarrieren der PodiumsteilnehmerInnen, unter ihnen auch die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, nachzuvollziehen, die es aus ganz einfachen Verhältnissen stammend, „trotzdem“ geschafft haben, ihren Traum von einer besseren Bildung (und damit einer nachhaltigen Verbesserung ihrer Karrierechancen) zu verwirklichen. Gemeinsam war ihnen dabei die Einschätzung, dass auf ihrem beschwerlichen Weg ein unterstützendes politisches Klima ganz entscheidend gewesen ist: Bildungspolitische Maßnahmen wie Schülerfreifahrt, Schulbuchaktion, Studentenwohnheime oder Wegfall der Studiengebühren waren wichtige Rahmenbedingungen. Noch wichtiger aber erschien ihnen die damalige Neuausrichtung des (bildungs-)politischer Diskurses, der darauf abzielte, das Selbstverständnis der traditionellen Elitenselektion in Frage zu stellen und der den Anspruch auf Einschluss bislang ausgegrenzter Gruppen in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken vermochte.
„Von mir aus können wir noch gerne drei Stunden über dieses Thema diskutieren“
Naturgemäß kam in der Diskussion rasch die Forderung nach der gemeinsamen Schule der 10 bis 14-jährigen als zentrales Instrument zur Verbesserung der Bildungschancen für Kinder aller gesellschaftlichen Gruppen – ungeachtet ihres Bildungsgrades – aufs Tapet. Dabei war faszinierend zu beobachten, wie sehr es Katharina Cortolezis-Schlager als Vertreterin der konservativen Bildungspolitik von heute genossen hat, die Vorhaltungen des Publikums an sich zu ziehen und zugleich als irrelevant abzutun, um auf diese Weise die bestehenden Selektionsstrategien zu verteidigen.
Irritierender waren da schon die Aussagen der ehemaligen „Arbeiterkinder“, die es geschafft haben, ins Bildungsestablishment vorzudringen. Immerhin erwähnten sie nicht nur die positiven Unterstützungsleistungen der damaligen Bildungspolitik. Sie beschäftigten sich auch mit den Beharrungskräften ihrer Milieus, wenn sie sich mit ihren Bildungsambitionen von anderen Familienmitgliedern bzw. von Freunden befragen lassen mussten, ob „diese ihnen nicht mehr genug wären“, ob sie jetzt „etwas Besseres“ werden wollten oder „ob ihnen zuviel ins Hirn gestiegen“ wäre.
Deutlich wurde hier die Sorge, „sozialen Verrat“ zu begehen, der Bildungswillige dazu dränge, die Verhältnisse, in die sie hineingewachsen sind, zu überwinden und diese in der Folge – vom neu errungenen Standort aus – in Frage zu stellen oder gar abzuwerten. Da können die Eltern noch so sehr vom Wunsch beseelt sein, „dass es ihre Kinder einmal besser haben sollen“; zurück bleibt doch die kollektive Unterstellung, sich mit dem durch Geburt zugewiesenen Gegebenheiten nicht zufrieden geben zu wollen („Schuster, bleib bei deinem Leisten“) und stattdessen „höher hinaus zu wollen“.
Dieser besondere Kraftakt, sich aus dem eigenen sozialen und kulturellen Milieu zu emanzipieren, kann von denen, die das Schicksal in ein bereits gemachtes Bett gelegt hat, bestenfalls vom Kopf her nachvollzogen werden. Umso brutaler erweisen sich die Konsequenzen für diejenigen, die sich „von unten“ auf den Weg machen und dabei nicht nur materielle, vor allem aber eine Vielzahl von unsichtbaren emotionalen und gerade deshalb besonders wirksamen Barrieren zu überwinden haben.
Kulturelle Teilhabe und sozialer Verrat
An diese tiefen Verstrickungen muss ich oft denken angesichts der aktuellen Bemühungen, die großen Kunst- und Kultureinrichtungen, die lange als die Repräsentationsorte eines bildungsprivilegierten Bürgertums fungiert haben, für alle jungen Menschen, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft zu öffnen und attraktiv zu machen. Und ich sehe die „Arbeiterkinder“, wie sie die Kunsträume betreten, die ihnen mit der ganzen architektonischen Gewalt zurufen: „Du bist anders und gehörst nicht hierher.“
Und selbst, wenn sich dank einfühlsamer Vermittlungsbemühungen, die in der Lage sind, einen Bezug zur Lebenswelt der jungen Menschen herzustellen, ein Interesse und damit der Wunsch nach Mehr einstellt, bleibt ein weiterer schwerer Gang zu absolvieren: Der Weg zurück ins eigene Milieu. Dort muss das Arbeiterkind den Mut aufbringen zu erzählen, was es gesehen hat, vielleicht sogar, dass ihm das eine oder andere gefallen hat. Zu erwarten ist, dass es statt Interesse und Anerkennung zu aller erst Spott und Häme ernten wird, weil es gewagt hat, sich aus den eigenen kulturellen Schranken hinauszubewegen. Groß ist die Gefahr, denunziert zu werden, als jemand, der bereit ist, sich auf die Seite „der Anderen“ zu schlagen und auf diese Weise für fähig gehalten zu werden, Verrat am eigenen kulturellen Milieu zu begehen.
Das alles mag jetzt etwas drastisch klingen, spitzt aber doch ein spezifisches Dilemma zu, das vor allem für junge Menschen aus nicht Hochkultur affinen Milieus besteht, die eingeladen werden, an Aktivitäten in kulturellen Einrichtungen teilzunehmen, deren ursprünglicher Zweck darin bestanden hat, sie und ihresgleichen auszuschließen. Zu vermuten ist, dass sich das Dilemma durch den Umstand, dass die überwiegende Anzahl der VermittlerInnen selbst nicht aus dem Arbeitermilieu stammt, eher verschärft als verringert. Auch der größte missionarische Eifer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie von den Jugendlichen nicht als ihresgleichen erkannt werden und sich eine unmittelbare sozio-kulturelle Übereinstimmung nicht einzustellen vermag.
Vieles deutet darauf hin, dass Kultureinrichtungen dieses Problem nicht werden lösen können. Stattdessen gilt es, die Regeln der zentralen Selektionsmaschine Schule zu verändern, die vorrangig über die soziale Zugehörigkeit entscheidet. Mit der Fortsetzung einer generellen Verweigerungshaltung, die Integrationskraft von Schule zu stärken, hat die ÖVP deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an der Verringerung der wachsenden sozialen Gegensätze (mit allen kulturpolitischen Folgen wachsender kultureller Differenzen) hat. Dank der aktuellen Privatisierungstendenzen wissen sich ihre Entscheidungsträger im Vermögen, ihrer Klientel weiter ein gutes Bildungsangebot bieten zu können.
Der große Rest soll – wenn es denn sein muss, steuerbegünstigt – Auto fahren.
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