„Seid umschlungen Millionen“ aber Achtung: „Dieser Kuss“ kann tödlich sein
In diesen Tagen feiert das Wiener Konzerthaus die hundertste Wiederkehr seiner Errichtung. Im Rahmen eines Festkonzerts erklang – wie schon 1913 – Beethovens 9. Symphonie, die mit der Ode an die Freude endet, mit der „Millionen umschlungen und der ganzen Welt ein Kuss aufgedrückt wird“. Dirigiert wurden die Wiener Philharmoniker diesmal von Gustavo Dudamel, dem neuen Star der jungen Dirigentengeneration. Die Wahl erfolgte nicht zufällig, verdankt er doch seinen kometenhaften Aufstieg aus den Favelas von Barquisimeto in Venezuela zum musikalischen Direktor des Los Angeles Philharmonic Orchestras dem mittlerweile weltweiten Vorzeigeprojekt „El Sistema“, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Lebensverhältnisse junger Menschen mit Hilfe klassischer Musik zu verbessern (zuletzt hat der südkoreanische Kulturservice kaces ein diesbezügliches Projekt Korean Sistema in Form eines „Orchestra for Dream“ realisiert).
Im Rahmen eines Festaktes vor dem Konzert formulierte Rudolf Scholten als ein eindringliches Plädoyer zugunsten von Neugierde, Entdeckungsfreude, von Mut und der Bereitschaft, sich auf Neues und Ungesichertes in und mit der Kunst einzulassen. Zugleich vermutete er, die im Konzerthaus versammelten Kunstinteressierten zunehmend eine Insidergruppe darstellen würden, die gar nicht mehr wahrnehmen, was sonst noch auf der Welt passiert: „Kann es sein, dass wir auch dieses Haus manchmal als zu unsrig empfinden und die vielen anderen als die anderen? Kann es auch sein, dass wir so viele sind, dass die anderen gar nicht abgehen? Das kann sein.“
Als Gegenmittel empfahl er einen Besuch an den Rand der Stadt und verband diese Begehung mit einer Einladung an Menschen, die sich auf Grund ihrer Lebensumstände einen Besuch des Wiener Konzerthauses gar nicht vorstellen können, das Programm der traditionellen Kunst- und Kultureinrichtungen wahrzunehmen. „Holen wir Diversität ins Haus, wie auch die Musik gegen jede Einförmigkeit auf ihre vielstimmigen Barrikaden steigt. Wir sind es schuldig und bereiten uns dabei selbst das größte Geschenk“.
Retrospektiv muss ich zugeben, dass es mir bei der Aufführung dieser 9. Symphonie nicht gut gegangen ist. Je lauter die Wiener Singakademie ihre Apotheose der Vereinigung der Menschheit in den Saal schmetterte, desto mehr drängten sich mir die Realitäten in den Vordergrund, denen die vorgeblich Umschlungenen ausgesetzt sind.
Im Zentrum singen, an den Rändern ersaufen
Die Aufführung fällt zusammen mit der fast schon täglichen Wiederkehr von Berichten über den Tod von Bootsflüchtlingen, die versuchen, den rettenden europäischen Kontinent, dessen gemeinsame politische Repräsentation mit der Musik der Ode an die Freude als offizieller Hymne schmückt, zu erreichen und es nicht schaffen. Das elende Ersaufen von tausenden, zumeist junger Menschen, die vergeblich versucht haben, ihren Anspruch auf das von Scholten apostrophierte „zukünftige Lebensglück“ geltend zu machen, hat immerhin zu einem breiten Aufschrei von Menschen geführt, die erkennen, dass das „nicht unser Europa ist“.
Einer der Wortführer ist der Journalist Fabrizio Gatti, der vor ein paar Jahren das Buch „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ veröffentlich hat. Darin schildert er seine wahnwitzigen Erfahrungen, der er selbst beispielhaft für die afrikanischen Flüchtlinge auf dem Weg nach Lampedusa gemacht hat. Während sich die Europäische Union (der 2012 der Friedensnobelpreis zugesprochen worden war) auf ihrer jüngsten Ratssitzung zu keinerlei Maßnahmen durchringen kann , dies über zusätzliche Finanzzusage der Grenzschutztruppen Frontex in der Höhe von 30 Millionen Euro beschränkt, sammelt Gatti Unterschriften, um die Mittelmeerinsel, die in ganz besondere Weise mit den Konsequenzen einer zerstörerischen Flüchtlingspolitik ausgesetzt ist, für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.
Die politische Reaktion auf das Flüchtlingselend ist in mehrfacher Weise beschämend. Da ist zum einen der Umstand, dass das massenhafte Ertrinken von mehreren hundert Flüchtlingen in Sichtweite zum Strand von Lampedusa erfolgt ist. Es ging also nicht darum, die verunglückten Boote rechtzeitig zu entdecken sondern schlicht darum Hilfe zu leisten. Und da ist zum anderen die Tatsache, dass dieselben PolitikerInnen, die sich angesichts der humanitären Katastrophen damit begnügen, kosmetische Maßnahmen zur weiteren Verschärfung der Grenzziehungen zu setzen, noch wenige Wochen vorher bereit gewesen wären, hundert, ja tausend Mal höhere Beträge für einen europäisch/amerikanischen Militärschlag gegen im Krisenherd Syrien locker zu machen ( ausgerechtet gegen den Staat, aus dem zur Zeit die größten Flüchtlingsströme kommen). Eine diesbezügliche Unverhältnismäßigkeit wird deutlich, wenn man erfährt, dass allein das militärische Engagement in Afghanistan jährlich rund 150 Milliarden Euro verschlingt oder wenn der US-amerikanische Ökonom Joseph Stieglitz die Kosten des Irakkrieges auf 3 Billionen Dollar schätzt. Heute wissen wir, dass die militärischen Maßnahmen zur Durchsetzung westlicher Werte weitgehend gescheitert sind; ein Grund mehr, darüber nachzudenken, ob man mit diesen Mitteln zur Erbringungen sozialer und humanitärer Leistungen es eher geschafft hätte, zumindest einige der aktuellen Flüchtlingsströme erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Viel Geld für militärische Hilfe, wenig Geld für humanitäre Hilfe – Wir alle zahlen den Preis
In der jüngsten Ratssitzung haben sich die Regierungschefs mit Lippenbekenntnissen zufrieden gegeben. Ihren Beteuerungen des Erschreckens und der Trauer um die Ertrunkenen folgte offenbar kein Ringen um Lösungen, die der europäischen Tradition unverbrüchlicher Menschen- bzw. (Über-)lebensrechte gerecht zu werden versuchen.
Statt dessen zynisches Nachgeben der politischen Führungen gegenüber den wachsenden Renationalisierungstrends, die den verunsicherten Bevölkerungen als einzig überzeugende Handlungsoption suggeriert werden. Das Resultat ist ein Mehr an Überwachung, an Kontrolle und damit an Einschränkungen der persönlichen Freiheiten als Preis für das weiteres Hochziehen der europäischen Festungsmauern, die mittlerweile das Ausmaß einer umfassenden Kontrollgesellschaft angenommen haben. Die vordergründige politische Hoffnung, damit den geschürten Ausschlusserwartungen zu entsprechen liegt wohl in erster Linie darin, bei den kommenden Europawahlen honoriert zu werden.
Europa handelt wider ihre eigenen Prinzipien, ökonomisch und humanitär
Hellhörig bin ich beim Lesen eines Interviews geworden, das die Süddeutsche Zeitung mit der Kulturanthropogin Sabine Hess geführt hat. Unter dem Titel „Wir verschwenden Potential“ stellt sie die politisch weitgehend tabuisierte Frage, was eigentlich passieren würde, wenn morgen Europa seine Grenzen öffnete, um jeden aufzunehmen, der kommen will. Dazu berichtet sie, dass es hierfür durchaus durchgedachte Szenarien gäbe und think tanks wie demos in Studien wie „People Flow – Managing Migration in a New European Commenwealth“ die Konsequenzen bereits durchgedacht hätten. Ihr zentraler Befund: Die Befürchtung, dass alle migrationswilligen Menschen ausgerechnet nach Europa kommen wollten, stelle eine „totale eurozentristische Überschätzung“ dar, zumal sich andere Erdteile als zunehmend attraktiver erweisen. Entscheidender aber ist ihr der Umstand, dass es sich bei den Flüchtlingen in der Regel nicht um die „Ärmsten der Armen“ handelt, die bestenfalls regional migrieren könnten. Nach Europa dränge es in erster Linie „MittelschichtlerInnen“, die – auch sie Mitglieder einer vernetzten Welt – bereits Kontakt nach Europa hätten. Nicht alle seien gut ausgebildet: „Aber es sind Leute, viele davon sehr jung, die ehrgeizig sind, die Mut haben und die aus ihrem Leben etwas machen wollen“. Diese kollektiv zurückzuweisen bedeute, Potentiale an Leuten zu vergeuden, die genau das Bild des Arbeitnehmers verkörpern, von dem die Europäische Union in jeder ihrer Sonntagsreden zur Förderung wirtschaftlicher Prosperität behauptet, sie in besonderer Weise zu brauchen.
Es gibt also durchaus, angeblich für die EU zentrale wirtschaftsliberale Argumente, für ein Ende einer rigiden Migrationspolitik, die den Tod vieler Menschen zumindest in Kauf nimmt und ein Ende eines – mit den traditionellen europäischen Werten völlig unvereinbaren – Kampfs ums Überleben an seinen Rändern erlauben.
Dass diese Werte nicht nur behauptet, sondern von der Zivilgesellschaft auf durchgesetzt gesehen werden wollen, beweisen zur Zeit französische SchülerInnen, die sich massenhaft gegen die Abschiebung einer Kollegin mit Roma-Wurzeln zur Wehr setzen. Sie haben Präsident Hollande zu einer Stellungnahme gezwungen, in der er gemeint hat, mit einem faulen Kompromiss (das Mädchen dürfe zurückkehren und die Schule abschließen, seine Familie aber nicht) die Angelegenheit kalmieren zu können. Und schon basteln führende Vertreter der französischen Rechten an einer Aufhebung des „ius soli“, dass alle in Frankreich Geborenen zu französischen StaatsbürgerInnen erklärt, in der Hoffnung, damit den rechtsradikalen Kräften Wind aus ihren propagandistischen Segeln nehmen zu können. Und machen damit deutlich, dass es gar nicht um einen rationalen Diskurs geht sondern um politische Interessen, bei deren Durchsetzung ihre ExponententInnen ethische Fragen bestenfalls als argumentatives Kleingeld tauschen.
Im Dilemma ästhetischer und ethischer Ansprüche
Alles Probleme, die scheinbar weit weg sind vom freudigen Miterleben einer Aufführung der 9. Symphonie. Und doch ist in der gegenwärtigen kulturellen Krise, in der sich Europa befindet, eine Klärung des künftigen Verhältnisses ästhetischer und ethischer Ansprüche – jedenfalls für mich – zunehmend dringlich. Natürlich kann sich eine Reaktion auch in Zukunft eine Reaktion darauf beschränken, ob die Philharmoniker animiert gespielt und die Singakademie gut gesungen haben. Immerhin hat sich der neue Generalsekretär des Konzerthauses Matthias Naske vorgenommen, die Relevanz seines Hauses sichtbar zu machen.
Meine erste Empfehlung war, für eine Zeit darauf zu verzichten, die Neunte Beethoven zur Aufführung zu bringen. Gefahr dabei: Vielleicht würde es erst gar niemand merken. Nach dem Schreiben dieses Blogs ist mir Idee gekommen, allen BesucherInnen im Anschluss an die Aufführung die demos Studie „People Flow“ in die Hand zu drücken. Vielleicht aber sollte das Haus einfach dem Rat Rudolf Scholtens folgen, einen Wettbewerb auszuschreiben, um Ideen zu sammeln, wie das Haus und seine BesucherInnen mit diesem Dilemma kreativ umgehen könnte.
In der Garage X fand vorige Woche die Gala zur Prämierung der unpolitischten Theaterproduktion 2012/21013 statt. Den Gewinnern schrieb Julius Deutschbauer den Satz von Thomas Mann ins Stammbuch: „Man kann ein Ästhet sein und doch in Tuchfühlung mit der Politik“. Das Wiener Konzerthaus war nicht nominiert. So stehen die Chancen gut, dass sich dort bis zum nächsten Jubiläum in hundert Jahren das Dilemma zwischen dem Anspruch, die ganze Welt mit ästhetischen Mitteln in die Arme zu nehmen und der Realität von massenhaft Ertrinkenden verringert haben wird. Und mit dem „Kuss der ganzen Welt“ auch diejenigen gemeint sind, die zur Zeit gegen die Festung Europa vergeblich anrennen und ihren möglichen Tod auf sich nehmen, um an den Errungenschaften der europäischen Kultur teilzuhaben.
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