
Universität zum Abgewöhnen
In diesen Tagen unterzog sich meine Tochter einem Aufnahmetest an der Universität Wien. Ihr Bericht erinnerte an Eindrücke des Films von Erwin Wagenhofer „Alphabet“ zum Umgang mit SchülerInnen in Massenerziehungslagern irgendwo in China. Im Umgang mit der angesagten Menge an Interessierten setzte die private Firma, die den Test ausgerichtet hat, auf bewährte militärische Organisationformen, die die BewerberInnen in Reih und Glied antreten ließ; darüber hinaus gab es detaillierte Vorgaben, die von der Bekleidung bis zur Nutzung des Schreibgerätes reichten. Alles schien vorab festgelegt: Die Einführung zum Ausfüllen des angewandten Multiple-Choice-Tests nahm allein fast eine Stunde in Anspruch; ein vorzeitiges Verlassen des ansonsten für Messe-Veranstaltungen verwendeten Raumes wurde durch Absperren der Türen verunmöglicht. Weil zuletzt doch nicht so viele gekommen waren, wie angemeldet, haben alle bis auf einen Bewerber, der abbrechen musste, weil er zu offensichtlich geschummelt hat, die Studienberechtigung erhalten.
Meine Tochter hat es mit Fassung ertragen und war doch einigermaßen irritiert: Das kann doch nicht wahr sein; so also präsentiert sich die Universität gegenüber ihren künftigen Studierenden. Ganz offensichtlich straft die konsequente Anwendung einer Entindividualisierungs-Methode alle Erwartungen an höhere Schulen als primäre Orte der kreativen Auseinandersetzung mit Wissen, Fertigkeiten und Haltungen Lügen. Dementsprechend dringlich kam die Frage auf: Was stimmt jetzt bzw. bin ich hier überhaupt richtig?
Der panoptische Effekt: Über das Tauschgeschäft Fehlervermeidung gegen Gefühlsunterdrückung
In seinem jüngsten Pamphlet „Die panoptische Schule“ ortet der Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier eine nachhaltig wirksame Veränderung der Bildungseinrichtungen nicht nur in Richtung Transparenz und Kontrolle, sondern auch zu Konformismus und Gleichförmigkeit. Ihm zufolge wäre das hier gewählte Setting nicht der Not geschuldet, den Wissensstand einer großen Gruppe zu erheben, mit dem Ziel der Selektion der geeignetsten BewerberInnen, sondern die Funktionsfähigkeit innerhalb vorgegebener Systemgrenzen auszuloten und auf der Grundlage die Bildungsambitionen der jungen Menschen zu bewerten.
Wahrscheinlich glauben nicht einmal die Veranstalter dieser Inszenierung selbst, dass sich damit die geeignetsten KanditatInnen herausfinden ließen, die die Kraft und den Willen aufbringen würden, sich über Jahre mit einem spezifischen Fachzusammenhang intensiv auseinanderzusetzen. Abgefragt wird stattdessen ein – wie Heinzlmaier meint – „angepasstes, adaptiv-pragmatisches Wesen“, das darüber entscheidet, sich rasch und ohne signifikanten Widerstand in eine vorgegebene Systemlogik einzufinden, die sich immer weniger über den Gegenstand selbst, dafür umso mehr über den Umgang mit ihm definiert. Zum Ausdruck käme ein institutionell verfasster Auftrag zum Konformismus. Mit ihm gälte es, eine Gleichförmigkeit durchzusetzen, die „einen angepassten, wirtschaftlich denkenden und verwertbaren Menschen erzeugt, der innerhalb vorgegebener Systemgrenzen funktioniert und dabei völlig ohne visionäre Weltentwürfe auskommt“.
Gestützt wird diese Analyse durch den Umstand, dass die jungen Menschen selbst angesichts der skizzierten „unmenschlichen“ Prüfungsumstände keinerlei Anstalten gemacht haben, dagegen aufzubegehren. Sie alle haben die Situation ertragen in der Hoffnung, ihr halbwegs unbeschädigt zu entkommen. Für Heinzlmaier ein weiterer Beleg für eine „weitgehende Unfähigkeit der jungen Generation, ihr eigenes Leben autonom, ohne Anleitung und Hilfe von außen zu führen. Die Jugend unserer Zeit ist geprägt von der Bereitschaft, sich in vorgebenen Bahnen auf die Strategie „Erfolg durch Anpassung“ zu verlassen und andererseits vom Unvermögen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.“
Wissen die EntscheidungsträgerInnen noch, was sie in der nächsten Generation anrichten?
Diese Entwicklung den jungen Menschen selbst anzulasten, hielte ich für einen verhängnisvollen Fehler. Er würde nicht nur zu einer weiteren Entfremdung zwischen den Generationen beitragen, er würde auch außer Acht lassen, dass es die in die Jahre gekommenen EntscheidungsträgerInnen sind, die diesen Konformitätsdruck aufgebaut haben und dass sie drauf und dran sind, das Verhalten junger Menschen nachhaltig zu beeinflussen.
Es scheint, als bedienten sich die Systemträger zur Durchsetzung dieses umfassenden Anpassungsprogramms einer infamen Doppelbotschaft: Da sind zum einen die lautstarken Bekundungen zugunsten wachsender Individualisierung verbunden mit wohlgesetzten Rufen nach mehr Kreativität. Nur mithilfe der umfassenden Fähigkeit der Menschen, in phantasievoller und gestaltender Weise zu denken und zu handeln, würde es gelingen, auf Dauer Wohlstand und Prosperität zu gewährleisten. (Dass diese vieltausendfach gehaltenen Lobreden der Kreativität selbst mittlerweile von einem unüberbietbaren Ausmaß an Stereotypie und Langeweile gekennzeichnet sind, hat zuletzt die Gala der Ars Electronica eindrucksvoll bewiesen.)
Zunehmend alibimäßig wird dieser Anspruch aufrechterhalten mit Spezialprogrammen der kulturellen und kreativen Bildung, denen es gelingen soll, gegen alle institutionellen Zwänge schon mal kreative Leuchtfeuer abzubrennen. Geht es hingegen ums „Eingemachte“ der aktuellen Schul- und Bildungsentwicklung, dann wird schnell klar, dass der Zug ganz woanders fährt, in Richtung Standardisierung und damit Entindividualisierung. Entsprechend unterentwickelt bleibt alles, was sich nicht vordergründig in Zahlen und damit quantitative Vergleichbarkeit pressen lässt und führt so zu einer sukzessiven Verarmung dessen, was einmal als Bildung verhandelt wurde.
Kompetent sein galt einmal als ein Kompliment an den ganzen Menschen
Mehrfach deutlich wurde diese tendenzielle Ausdünnung im Rahmen des Projekts „Lernen mit, in und durch Kultur“, das EDUCULT zuletzt mit einigen Neuen Mittelschulen durchführen konnte. Verhandelt wurde dabei der „kulturelle Kompetenzerwerb“. In der Durchführung fiel uns auf, wie groß der Widerstand gegenüber dem Kompetenzbegriff mittlerweile ist, wenn sich die beteiligten LehrerInnen gar nicht mehr vorstellen können, dass „Kompetenz“ einen die ganze Person einschließenden komplexen Zusammenhang aus Wissen, Fertigkeiten und Haltungen beschreibt, sondern davon ausgingen, es handle sich dabei einmal mehr um eine von der Schulbürokratie vorgegebene Größe, die es nunmehr gälte, in ein quantitativ messbares Korsett zu pressen. Es bedurfte eines zweijährigen Projektverlaufs der sukzessiven Wiederaneignung dessen, was ein autonomer Bildungsanspruch mit kulturellen Mittel bedeuten könnte, freilich ohne die Frage umfassend beantworten zu können, wie die Umsetzung im Rahmen des aktuellen Konformitätsdrucks des regulären Schulbetriebes auszusehen hätte.
Zu den diesbezüglichen Merkwürdigkeiten zählte auch die Dominanz eines „Schulmodus“, der die beteiligten SchülerInnen und LehrerInnen immer wieder auf ein adaptiv-pragmatisches Verhalten (siehe oben) festlegen möchte, wonach Lernen vorrangig darin bestünde, vorgegebene Erwartungen möglichst schnell (und unauffällig) zu erledigen ohne einen eigenen gestalterischen Anspruch einzubringen. Auch hier zeigte sich erst im weiteren Projektverlauf, wie viel Neugierde, Talente und Eigeninitiative der SchülerInnen (aber auch der LehrerInnen) unter dem (weitgehend verinnerlichten) Erwartungsdruck eines überkommenen schulischen Lernbegriffs verborgen sind und welcher Geduld und Sorgfalt es bedarf, diese noch einmal zur Wirksamkeit geraten zu lassen. Die dabei gemachten Erfahrungen können als Beleg für Michel Foucaults These der weitgehenden Verinnerlichung von Machtverhältnissen (siehe dazu etwa: Überwachen und Strafen) gelesen werden, unter dessen Eindruck unser aller Verhalten mittlerweile nachhaltig konditioniert erscheint.
Die Zahlen sprechen für sich: Wir haben uns dreingefunden, nichts mehr zu sagen
Aus einem etwas anderen Blickwinkel hat dieses Thema zuletzt auch die Literaturjournalistin der Wochenzeitschrift Die Zeit, Iris Radisch, angesprochen. Unter dem Titel „Der ganz normale Nulltext – Im Dauergequassel der Gegenwart regieren Denkverbote und ein diffuses Klima der zwanghaften Selbstbegeisterung“ erzählt auch sie von der wachsenden Verinnerlichung von Machtverhältnissen. Dazumal hätten externe obrigkeitliche Instanzen wie Kirchen, Parteien oder andere „Großkontrollore“ darüber bestimmt, was wer wo wie sagen dürfe oder eben nicht. Zu diesem Oktroy konnte man sich – auch in Form von Widerstand – verhalten und es gab es Nischen einer undressierten Kommunikation, in denen es möglich war, zu sagen was man wollte. Heute würde die herrschende Redeordnung immer weniger von außen vorgegeben, sie wäre weitgehend verinnerlicht und würde „freiwillig an sich selbst verübt“. In der Konsequenz genüge es nicht mehr, äußeren (Rede-)Vorschriften zu genügen, man müsse das auch noch gut finden: „Die neue Zeit will den Menschen ganz. Sie will seine umfassende Zustimmung“. Radisch bezieht sich bei ihrem Befund auf den Berliner Philosophen Byung-Chul Han, der in diesem Zusammenhang von einer „Hyperaktivität des zwanghaften Einverständnisses mit sich selbst“ spricht.
In gewisser Weise erzählt Radisch von den Auswirkungen einer „panoptischen Schule“ wie sie Heinzlmaier skizziert, deren Deformationsgewalt wir an uns selbst beobachten können: Eine Öffentlichkeit habe sich auf die Kommunikation eines „ganz normalen Nulltextes“ verengen lassen, in der weitgehend „automatisch geredet“ würde. Das, um das es „wirklich geht“ verlagere sich bestenfalls in die scheinbare Privatheit digitaler Kommunikation. Das Ergebnis sei ein „beliebig zusammengetragener Sprach- und Denkmüll einer sich bis in die höchsten Gesellschaftskreise erstreckenden universalen Angestelltenidiotie, die sich für nichts mehr außer den eigenen karrieristischen Vorteil interessieren“ würde. Die Behauptung, es handle sich bei diesem Befund um das Ergebnis einer auf Individualisierung und Kreativitätsförderung basierenden Erziehung, lässt sich mit diesem Befund wohl nur sehr schwerlich aufrechterhalten.
Es ist unschwer zu erkennen, dass zuletzt auch die politischen Entscheidungsträger an den Schalthebeln der Macht arg in Versuchung geraten sind, sich diesem „normalen Nulltext“ zur Verschleierung der eigenen Perspektivlosigkeit zu bedienen mit beträchtlichen negativen Konsequenzen für die politische Kultur. Es sind vor allem die VertreterInnen rechter Oppositionsparteien, die vorgeben, diesem „Polit-Speech“ mutig Paroli bieten und damit der Sehnsucht nach starken Sprüchen nachkommen, freilich (noch) ohne sie konkret umsetzen zu müssen.
Aber auch in den Künsten wird ein Wiedererstarken des Willens nach einer „wirklichen Welt hinter dem wattierten Geschwätz“ deutlich. Unübersehbar die Sehnsucht nach der „kalten Luft der Außenwelt“, nach echter Berührung, nach echtem Leben. Diese Sehnsucht zeigt sich wohl auch in der unerwarteten breiten Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen, die zurzeit Europa durchqueren.
Die Müdigkeit gegenüber dem herrschenden, von „Political Correctness“ bestimmten, inhaltslosen Meinungsklima muss groß sein, wenn so viele Menschen sich gegenwärtig darin überschlagen, noch einmal einen Ausflug ins wirkliche Leben zu wagen, dorthin, wo unmittelbare Begegnung mit Menschen mit echten Problemen möglich ist und wo man sich unmittelbar sinnlich erfährt, indem man etwas Nützliches tut. Da könnte man schon den Eindruck gewinnen, hier zeige sich nicht nur eine beeindruckende Hilfeleistung sondern auch eine wechselseitige Bedürfnisbefriedigung, wonach die, die helfen mindestens ebenso nach unmittelbarer menschlicher Erfahrung gierten wie die Flüchtlinge nach Schutz.
Eine Zivilgesellschaft, die die Politik in Zugzwang bringt und das Wiedererstarken der Hoffnung auf eine Politik, die ihr Handwerk versteht
Dieser massenhafte Ausbruch an Menschlichkeit hat zumindest einige PolitikerInnen in Europa dazu bewogen, es ihrerseits mit Klartext-Formulierungen zu versuchen (freilich ohne gleich alle damit verbundenen Motive offen zu legen). Sie haben damit neue Grundlagen für eine neue Qualität der politischen Kontroverse in Europa geschaffen. Ob damit auch schon automatisch die richtige Seite gewinnen wird, bleibt abzuwarten. Der politische Kampf ist erst zu führen. Die Stimmen, die angesichts fehlender politisch-institutioneller Rahmenbedingungen, mit denen die spontanen Aktionen der Zivilgesellschaft früher oder später verstetigt werden wollen, diesbezüglich vor allzu großer Euphorie warnen, sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.
In der Zwischenzeit hoffe ich, dass meine Tochter diesen ersten Eindruck einer Universität nicht schon für das Ganze nimmt. Ja es stimmt, dass auch Österreich und selbst seine hohen Schulen von der aktuellen Welle antintellektueller Konformitätserwartungen mit Hilfe von Zahlen (siehe dazu die jüngste Veröffentlichung des britischen Politikwissenschafters Collin Crouch: Die bezifferte Welt) erfasst ist. Die Verantwortung, sich dagegen zu verwehren hingegen, die bleibt. Und in der Bereitschaft, sie wahrzunehmen, ist sie nicht allein.
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